Drama | Israel/Deutschland 2011 | 98 (24 B./sec.)/95 (25 B./sec.) Minuten

Regie: Eran Kolirin

Ein junger, glücklich liierter Israeli entdeckt unvermittelt, dass man das Leben auch aus einer gänzlich anderen Perspektive betrachten kann. Vorsichtig beginnt er, das enge Gehäuse seines Alltags aufzubrechen und der routinierten Langeweile zu entfliehen. Ein spannender, beinahe existenzialistischer Film, der zwischen stiller Freude und wachsender Beklommenheit angesichts des Eigenlebens der Dinge oszilliert und in eine beunruhigende Meditation über die Rituale des Daseins mündet. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
HAHITHALFUT
Produktionsland
Israel/Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
July August Prod./Pandora Films
Regie
Eran Kolirin
Buch
Eran Kolirin
Kamera
Shai Goldman
Schnitt
Arik Lahav-Liebovitch
Darsteller
Rotem Keinan (Oded) · Sharon Tal (Tami) · Dov Navon (Yoav) · Chirili Deshe (Yael)
Länge
98 (24 B.
sec.)
95 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
30.08.2012
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Die Neubauten sind anonym, die Flure austauschbar, die Menschen ähneln sich in ihrer Geschäftigkeit. Jeden Morgen fährt ein junger Mann schweigend mit denselben Nachbarn im Fahrstuhl, nimmt denselben Bus zur Arbeit, sitzt im selben Büro und hält mit derselben Regelmäßigkeit denselben Unterricht im selben Hörsaal ab. Er kommt täglich zur selben Zeit nach Hause, hat Sex im selben Bett, aus dem er am nächsten Morgen wieder aufstehen wird. Um erneut denselben Tagesablauf zu zelebrieren. Eigentlich sind Oded und Tami ein glückliches Paar. Sie sind jung, haben einen hohen Schulabschluss und arbeiten an dem, was ihnen Spaß macht; er als Doktorand der Physik an der Hochschule, sie als frisch diplomierte Architektin voller Energie auf der Suche nach Arbeit. Doch der israelische Regisseur Eran Kolirin beobachtet seine Protagonisten in einer beginnenden Krise. Dabei handelt es sich weder um eine Identitäts- noch um eine Beziehungskrise. Oded, der unscheinbare, fast stoische Mann mit halblangem Bart, sich andeutender Glatze und immer gleichem Cordjackett fühlt, wie die Fundamente seines Alltags aus den Fugen geraten. Dabei ist der Auslöser fast banal: Er kehrt zu einer anderen Zeit als gewohnt von der Arbeit zurück, sieht seine Wohnung im strahlenden Sonnenlicht, seine Frau Tami im Tiefschlaf und erlebt in diesem Moment sein Leben aus einer völlig neuen Perspektive. Mit kindischer Freude beginnt er, das enge Gehäuse seines Alltags aufzubrechen: Er fährt mit dem Autobus eine Station weiter, mit dem Lift ins oberste Stockwerk, lässt vor dem Spiegel im Treppenhaus die Hose herunter. Seine Versuche, sich von der Gleichförmigkeit des Alltags zu befreien, sind kindisch: Er sucht kleine Provokationen, möchte aber niemanden provozieren. Oded lässt sich beurlauben, um ungestört sein Leben aus der Außenperspektive zu beobachten, und führt ein Doppelleben im eigenen Alltag: Er bricht seine Ordnungsregeln mit fast naturwissenschaftlicher Akribie, etwa wenn er einen Serviettenhalter vom Wohnzimmertisch auf den Boden stößt und interessiert das Resultat beobachtet. Immer stärker und durchaus lustvoll entfremdet er sich von seinen Funktionsstrukturen. Dann lernt er einen Nachbarn kennen, der ebenfalls der Langeweile des Alltags entflieht, indem er wilde Beschimpfungen in leere Wohnungen schreit oder die Nächte im abgedunkelten Luftschutzkeller verbringt. Ein wenig erinnert Oded an den alten Mann aus Peter Bichsels Kurzgeschichte „Ein Tisch ist ein Tisch“, an die Einsamkeit, die auf die lustvolle Zerstörung der Wort-Sinn-Beziehungen folgt. Doch Oded endet nicht in der Einsamkeit, im Gegenteil: Am Ende sind selbst die Liebe und die Geselligkeit unheimlich. Als er mit der Buslinie bis zur Endstation fährt, findet er den Strand und ein großes rotes Badeverbotsschild. Aber was macht das schon? Hier enden die festgefahrenen Wege. „The Exchange“ ist kein soziales Porträt der israelischen Mittelschicht; auch wirft Kolirin keine leichten Fragen auf, die er dann ebenso leicht beantworten würde. Vielmehr zeigt er, wie unheimlich die Rituale unseres Alltags und das Gerüst der täglichen Verpflichtungen werden, wenn die Routine einen kurzen Moment lang in einem anderen Licht erscheint. Dabei ist der Film weit eingängiger als Kolirins Debüt „Die Band von nebenan“ (fd 38 562), das mit stoischer Distanz in wenigen Sequenzen den ganzen Nahost-Konflikt charakterisierte. Die Figuren in „The Exchange“ sind doppelbödig, man spürt eine psychopathische Gefahr bei Oded, eine gefährliche Abwesenheit bei Tami, die auf Schlimmeres hindeutet. Dabei inszeniert der Film die existenzielle Leere nicht nur über die Schauspieler, sondern auch über spröde und kalte Drehorte und Ausstattung. Er lebt von kleinen Suspense-Momenten, einer mitunter fast surrealistischen Schlafwandlerei seiner Protagonisten und dem mehr oder weniger verbindlichen Moment der Identifikation des Zuschauers, dem existenzialistischen Drama, glückliche Sklaven des eigenen Alltags zu sein.
Kommentar verfassen

Kommentieren