In sechs vielfältig ineinander verschachtelten und miteinander verwobenen Episoden werden mehrere Personen durch kleine Zufälle aus ihrem Lebensalltag gerissen und mit unerwarteten Sinnkrisen, mit Identitätsverlust und sogar der drohenden Gefahr des Auflösens konfrontiert. Die phasenweise vorzüglich gespielte Verfilmung von Daniel Kehlmanns Episodenroman findet für das reizvolle Spiel der Vorlage mit den logischen Grenze der Erzählebenen eher nur konventionelle Entsprechungen, sodass das angestrebte Vexierspiel um Träume und Wünsche, Manipulation und Wirklichkeit solide unterhält, aber nicht allzu tief dringt.
- Ab 14.
Ruhm
- | Deutschland/Österreich/Schweiz 2011 | 103 Minuten
Regie: Isabel Kleefeld
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Filmdaten
- Originaltitel
- RUHM
- Produktionsland
- Deutschland/Österreich/Schweiz
- Produktionsjahr
- 2011
- Produktionsfirma
- Little Shark Ent./Terz Filmprod./Dor Film/Hugofilm/WDR/ARD Degeto/ARTE/ORF/SRF/SRG SSR
- Regie
- Isabel Kleefeld
- Buch
- Isabel Kleefeld
- Kamera
- Rainer Klausmann
- Musik
- Annette Focks
- Schnitt
- Andrea Mertens
- Darsteller
- Senta Berger (Rosalie) · Heino Ferch (Ralf Tanner) · Julia Koschitz (Elisabeth) · Stefan Kurt (Leo Richter) · Thorsten Merten (Klaus Rubinstein)
- Länge
- 103 Minuten
- Kinostart
- 22.03.2012
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Natürlich handelt Daniel Kehlmanns Roman auch vom titelgebenden Ruhm, eigentlich aber erzählt er – unterhaltsam, spielerisch und leichthändig – von weit grundlegenderen existenziellen Dingen hinter dem Konkreten: vom plötzlichen, gänzlich unerwarteten Identitätsverlust, vom Sichverlieren, Verschwinden und Auflösen. Da bedarf es nur kleiner Zufälle oder einer falschen Regung, „und man fand nicht mehr zurück, und schon war das alte Dasein dahin und kam nie wieder“, wie es an einer Stelle heißt. Höchst beklemmend erfährt dieses willkürliche Kraftfeld aus Wahn und Wirklichkeit die Figur der Schriftstellerin Maria Rubinstein auch in der Verfilmung: Die selbstgenügsame, seltsam farb- und temperamentlose Frau hat sich resigniert in ihrer gänzlich ruhmlosen Existenz eingerichtet und empfindet es als Highlight in ihrem Leben, dass sie als Ersatz für jemand anderen mit einer Journalistengruppe in ein fernes postkommunistisches, inhuman-korruptes Land irgendwo in Zentralasien reisen darf. Wie sie dabei schrittweise aller Sicherheiten verlustig wird, weder per Handy noch mittels einer ihr vertrauten Sprache kommunizieren kann, ihrer Habe beraubt wird und halb verhungert und verdurstet im Niemandsland strandet, das gestaltet Gabriela Maria Schmeide zu einem ganz besonderen Glanzstück aus. Ihre brillante Mini-Studie verdichtet am intensivsten die vielen bürgerlich-intellektuellen Ängste und Phobien, welche die Personen in Kehlmanns episodischem Erzählreigen umtreiben – im Roman sind es neun Geschichten, im Film jetzt nur noch sechs „Geschichten in Geschichten in Geschichten“, bei denen man nie wissen soll, wo die eine endet und eine andere beginnt: „Im Wahrheit fließen alle ineinander,“ wie Kehlmanns Alter Ego Leo Richter gegen Ende des Romans fabuliert.
Leo ist einer der zentraleren Protagonisten im Figurengeflecht, weil er sowohl Handelnder als auch reflektiert Gestaltender und Schöpfer weiterer Personen und Geschichten ist: Während er auf einer Lesereise durch Südamerika eine unveröffentlichte Kurzgeschichte über eine todkranke Frau vorträgt, nimmt diese in einer parallelen Episode selbst Gestalt an, macht sich auf den Weg in ein Schweizer Hospiz und hadert dabei mit ihrem „Erfinder“ Leo, der ihr dieses tragische Schicksal aufbürdet – und schließlich sogar mit ihr in Dialog tritt. Leo wird auf seiner Vortragsreise von seiner Geliebten Elisabeth begleitet, für deren Berufsleben als Ärztin in Diensten von „Ärzte ohne Grenzen“ er sich nur bedingt interessiert, sie vielmehr als literarische Inspiration für seine erfolgreichste Romangestalt Lisa Gaspard (aus-)nutzt; ausgerechnet diese Lisa Gaspard wiederum ist die bewunderte Heldin des fetten, manischen Internet-Bloggers Mollwitt, der im Auftrag seines Arbeitgebers, eines Mobilfunkproviders, unterwegs ist und dabei in Leos Schweizer Hotelzimmer eindringt. Dabei ist auch er nur ein Stellvertreter, und zwar für seinen Abteilungsleiter Klaus Rubinstein, Ehemann der im Osten gestrandeten Maria. Zudem ist Mollwitt schuld daran, dass eine Handy-Nummer doppelt vergeben wurde: ein kleiner, aber dummer Fehler, der fatale Folgen für die Existenz des Film-Stars Ralf Tanner wie auch des biederen Elektroingenieurs Ebling hat.
Kehlmanns Episodenroman reiht all dies in kurzen Erzählungen hintereinander, wobei der Leser darin zu seinem eigenen Vergnügen die mannigfachen Querverbindungen und Verästelungen schrittweise entdecken und entschlüsseln kann – im Film werden alle Figuren und Episoden permanent ineinander ge- und miteinander verschachtelt und nur auf den ersten Blick parallel geführt; eigentlich sind sie bar jeder chronologischen Struktur ineinander verhakt und funktionieren als eine „Fantasie in der Fantasie“, die hinter der Realität einer Erzählung zumeist eine weitere Erzählung aufscheinen lässt. Für die reizvollen narrativen Metalepsen des Romans, der ja gerade davon lebt, dass er immer wieder die logische Grenze seiner Ebenen bewusst verletzt, findet (und sucht) der Film freilich keine allzu raffinierten kinematografischen Entsprechungen; lieber weicht er in eher vertraute Konventionen aus und vermeidet es, wohl aus kommerziellem Kalkül, allzu anspruchsvoll-komplexe, womöglich gar visuell und inszenatorisch waghalsige Konstruktionen zu erfinden, die den Zuschauer „verstören“ oder überfordern könnten. Was (in Maßen) eine doppelbödige deutsche Variante von „Inception“ (fd 39 996) hätte werden können – ein Vexierspiel um Träume und Wünsche, Manipulation und Wirklichkeit –, das verdichtet sich doch nur zu einem zwar recht unterhaltsamen Film, der aber immer ein wenig wie eine zögerlich-zaghafte Vorstudie wirkt, der noch manches Unfertige und Unausgeführte anhaftet. Tragisches und Komisches, Bedeutsames und Banales, Bestürzendes und Lachhaftes stehen dabei beziehungslos nebeneinander statt sinnbildhaft in ihrer Gleichzeitigkeit aufzuleuchten und zu veranschaulichen, wie oft das eine mit dem anderen zusammenfällt. Was also quasi eine Art „Vermessung der Welt“ hätte werden können, ist so „nur“ ein solider Mainstream-Film mit guten Darstellern (neben Gabriela Maria Schmeide überzeugen Senta Berger und Heino Ferch), aber auch mit manchen Untiefen.
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