Der Adel vom Görli

Dokumentarfilm | Deutschland 2010 | 72 Minuten

Regie: Volker Meyer-Dabisch

Dokumentarisches Porträt des Görlitzer Parks in Berlin-Kreuzberg, der zum "Melting Pot" für soziale Aussteiger geworden ist. Vorgestellt werden einige Dauergäste des Parks, diskutiert wird, wie das soziale Miteinander zwischen postanarchistischem Utopismus und real existierender Drogensucht auf der Kippe steht, wobei die Nachdenklichkeit unter der pittoresken Oberfläche der Protagonisten verschwindet. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Karl Handke Filmprod.
Regie
Volker Meyer-Dabisch
Buch
Volker Meyer-Dabisch
Kamera
Günther Berghaus · Andreas Gockel · Volker Meyer-Dabisch · Ralph Netzer
Musik
Antonio Olivieri
Schnitt
Volker Meyer-Dabisch
Länge
72 Minuten
Kinostart
20.01.2011
Fsk
ab 12
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Berlin im Widerstreit mit sich selbst: Zwischen Kulturfaktor und Fast-No-Go-Areas, Kreativwirtschaft und Bildungsnotstand stolpert die Hauptstadt immer wieder über die eigenen Schlagzeilen. Währenddessen wird an der Basis versucht, so etwas wie Normalität auszubalancieren. Damit ist auch das Thema für eine Art Neuen Berliner Kiez-Film abgesteckt. Nach „Berlin: Hasenheide“ (fd 40 102) kommt mit „Der Adel vom Görli“ nun das zweite Kreuzberger Stadtparkporträt ins Kino, und erneut positioniert sich der Filmemacher eher als teilnehmender Beobachter denn als analytischer Dokumentarist. Der Görlitzer Park liegt auf dem Areal eines ehemaligen Bahnhofs. Inzwischen zum Park umgestaltet, dient er als Treffpunkt und grüne Lunge für den umliegenden Kreuzberger Kiez, als „Melting Pot“ für Menschen, die sich auf ganz unterschiedliche Weise nicht „anpassen“ wollen. Damit ist der „Görli“ genauso zum Mythos geworden wie Oranienstraße und Heinrichplatz. Volker Meyer-Dabisch, selbst Kreuzberger, porträtiert einige Dauergäste, die sich in „ihrem“ Park eingerichtet haben – die französische Akkordeonistin Mélinée, den Gitarristen und Sänger Michael „Lupo“ Dajek, den Frisbee-Spieler Alberto und die Mitglieder eines Streetgolf-Clubs, die auf dem Areal Golf spielen – nicht immer zur Freude der anderen Parknutzer, aber manchmal auch nachts, mit Leuchtbällen. Das klingt nach Berliner Verrücktheit, Szenemetropole, dem Jungen im Manne; doch bereits wenn Alberto erklärt, dass mit „Adel“ die „Alkoholfreaks“ aus der anderen Ecke gemeint sind („schließlich wird man blau, wenn man trinkt“), tut sich eine von den vielen sozialen Bruchstellen auf, die Berlin heute so zweischneidig machen. Die französischen und israelischen Wahlberliner, die Meyer-Dabisch vor die Kamera kriegt, finden das exotisch. Vor dem Hintergrund der Berlin-Mythen Bombenkrieg und Mauerbau feiern sie in den Tag hinein, finden die Atmosphäre „very special“ und auch, dass hier Müll herumliegt. Von kleinen Freiheiten und davon, dass hier jeder sein kann, wie er will, sprechen auch andere; doch auch von den Kehrseiten, die Dajek, dessen Liedtexte das von Zweifeln geprägte Lebensgefühl des ins Alter gekommenen Freaks auf den Punkt bringen, mit der rhetorischen Frage zusammenfasst: „Kennst Du einen, der hier rumläuft und kein Suchtproblem hat?“ Immer wieder beteuern die Protagonisten Kreuzberger Solidarität, reden von den Hausbesetzerzeiten in den 1980er-Jahren wie einst die Großeltern vom Krieg. Dabei klingen zuweilen kräftige Lebensweisheiten an, zu oft jedoch mit der Bierflasche in der Hand. Nicht erst, seit die Dealer harter Drogen hier auftauchen, steht das fragile Gleichgewicht auf der Kippe, ist die Grenze zwischen der Freiheit des Jeder-macht-sein-Ding und unkontrolliertem Abrutschen schmal geworden, wächst die Angst „vor dem nächsten Borderliner, der hier ausrastet“. Geschichten, die in Kreuzberg geschrieben wurden, aber dennoch nicht Kreuzberg sind. Türken fehlen fast völlig in dem materialreichen Film, genauso wie die so genannten Normalos (zu denen der Großteil der Türken in den sogenannten sozialen Brennpunkten gehört). Was bleibt, ist das „Surrealistische, Bezaubernde“, das die Französin Mélinée am Anfang feststellt. Die ist jung, während Alberto, Dajek und die anderen Vertreter der Generation 50 plus den größten Teil ihres Lebens bereits hinter sich gelassen haben. Ihre Ideale sind auf 14 Hektar Kreuzberg zusammengeschrumpft, wo sie jeden Flaschensammler kennen. Er schmeckt ein wenig bitter, dieser Kiez, und mit ihm die Utopien seiner Protagonisten, die bald in der Altersarmut ankommen. Ein nachdenklicher Unterton, der nicht vertieft wird. Dafür fällt ein Perspektivwechsel auf: Wo Kiez-Filme der 1970er- und 1980er-Jahre sozial Ausgegrenzte zu Objekten in der Argumentationskette gegen „das System“ erhoben, reduziert sie der um Solidarität mit seinen Protagonisten und eigenen politischen Idealen bemühte Meyer-Dabisch auf clowneske Überbleibsel einer postanarchistischen Generation, deren sozialer Rand Gefahr läuft, sich tot zu saufen. So werden die Feuerschlucker, „Asi-Golfer“ und Liedermacher vom „Görli“, genauso tragische wie selbstbewusste Alltagshelden, am Ende doch zu dem Abziehbild, zu dem sie die Berlin-Werbung gerne macht: pittoreske Originale mit Exotenbonus. Womit sich „Der Adel vom Görli“ um die nahe liegende kritische Auseinandersetzung mit Folgen der sozialen Ausstiegsideologien vergangener Jahrzehnte geschickt herummogelt.
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