Standard Operating Procedure

Dokumentarfilm | USA 2008 | 115 Minuten

Regie: Errol Morris

Anhand der Aussagen von fünf mittlerweile bestraften, aus der Armee entlassenen US-Soldaten und ihrer degradierten Kommandantin versucht der Dokumentarist Errol Morris, die Geschehnisse im irakischen US-Kriegsgefängnis Abu Ghraib zu erhellen, das durch dort begangene, auf Fotos dokumentierte Verstöße gegen die Menschenrechte weltweit in Verruf geriet. Mittels formal unprätentiöser "Talking Head"-Interviews, unterbrochen von teils inszenierten Sequenzen, macht der Film deutlich, dass die dokumentierten Foltereien nicht nur die Vergehen einiger weniger waren, sondern als systemimmanente "Standardverfahren" sanktioniert und politisch geduldet waren und sind. Die schiere Wucht des interrogativ gewonnenen Materials lässt dabei formale Schwächen in den Hintergrund treten. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
STANDARD OPERATING PROCEDURE
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Participant Prod./Sony Pic. Classics
Regie
Errol Morris
Buch
Errol Morris
Kamera
Robert Chappell · Robert Richardson
Musik
Danny Elfman
Schnitt
Andy Grieve · Steven Hathaway
Länge
115 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 18; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs und ein Feature mit neun im Film nicht verwendeten Szenen (25 Min.). Die BD enthält zudem die Pressekonferenz zum Film während der "Berlinale" 2008 (32 Min.), ein "Q & A" ("Diplomatie in Zeiten des Terrors", 45 Min.) sowie die Langfassungen der im Film verwendeten Interviews (133 Min.). Die BD ist mit dem "Silberling" 2009 ausgezeichnet.

Verleih DVD
Sony (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl.)
Verleih Blu-ray
Sony (16:9, 2.35:1, DTrueHD engl.)
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Diskussion
Abu Ghraib, der Name des Kriegsgefängnisses in Bagdad, erlangte im April 2004 weltweit eine zynische Berühmtheit, als zwölf Bilder in den Medien kursierten, auf denen zu sehen war, wie US-Soldaten irakische Gefangene folterten und sexuell erniedrigten. Die Illusion vom sauberen, guten Irak-Krieg drohte auf einen Schlag zu zerplatzen. Nach außen versuchten die amerikanische Regierung und Militärführung die Vorfälle in Abu Ghraib daher als Exzesse einiger weniger schwarzer Schafe abzutun. Die US-Medien griffen diese Denkstrategie im Bild von den „faulen Äpfeln“ auf, das zwar auch die Forderung nach Strafverfolgung beinhaltete – galt es doch zu verhindern, dass die moralische Fäulnis auf das Gesamtmilitär übergriff –, dennoch aber die Verantwortung für die Untaten bei einigen wenigen Einzelpersonen ansiedelte. Sieben solcher „faulen Äpfel“ machte die US-Öffentlichkeit aus. Zwei davon konnte Filmemacher Errol Morris in seiner Dokumentation über die Geschehnisse von Abu Ghraib nicht befragen, weil sie zum Zeitpunkt der Dreharbeiten im Gefängnis saßen: Ivan Frederick und Charles Graner, von dem angenommen wird, dass er einige der demütigenden Bilder, wie etwa dasjenige, in dem sich irakische Gefangene nackt zu einer menschlichen Pyramide auftürmen mussten, aus dem Hintergrund dirigierte. Die anderen fünf aber – Sabrina Harman, Megan Ambuhl, Jeremy Sivitz, Javal Davis und Lynndie England – brachte Morris für „Standard Operating Procedure“ vor die Kamera. Eine Sensation! Gesteigert wird dieser dokumentarische Glücksfall noch dadurch, dass Morris auch Janis Karpinski zu einem Interview bewegen konnte: jene US-Generalin, der die Brigade unterstellt war, die Iraks US-Gefängnisse bewachte, und die infolge der Untersuchungen zu den Misshandlungen in Abu Ghraib abgesetzt und zum Colonel degradiert wurde. Wer also wissen möchte, was damals in dem amerikanischen Militärgefängnis wirklich vorgefallen ist, der kommt um „Standard Operating Procedure“ nicht umhin. Er muss sich den Film anschauen und zugleich darauf vorbereitet sein, dass er die Antworten, die er sucht, kaum erhalten wird. Vergeblich hatte Morris sich darum bemüht, auch die irakischen Opfer ausfindig zu machen. Von jenem Mann, der auf dem vielleicht berühmtesten Bild aus Abu Ghraib zu sehen, aber nicht zu erkennen ist, weil ihm ein Sack über den Kopf gezogen wurde, während er mit verdrahteten Händen auf einer kleinen Kiste steht, kennt er nicht einmal den Namen. „Gilligan“ wurde er in den Medien getauft. Zu Wort kommen im Film stattdessen die Täter, die aus ihrer Sicht noch einmal ihre abscheulichen Taten schildern und, sehr auffällig, immer diejenigen Vorfälle drastisch beurteilen, an denen sie nicht beteiligt waren, hingegen entschuldigend argumentieren, wo es um ihre eigene Verantwortung geht. Javal Davis etwa entrüstet sich darüber, dass es eine gängige Methode gewesen sei, Kinder von mutmaßlichen Terroristen gefangen zu nehmen, um so ihre Väter unter Druck zu setzen: „Das nenne ich Kidnapping.“ Als er aber eingestehen muss, wie er selbst einmal „durchdrehte“ und einen am Boden liegenden, wehrlosen Iraker misshandelte, indem er ihm brutal auf Zehen und Finger trat, rechtfertigt er das mit dem heimtückischen Charakter der Gefangenen: „Sie lächeln dich an, und dann rammen sie dir ein Messer in den Rücken. (...) Sie waren nicht alle schlecht, aber doch die meisten von ihnen.“ Die fast schon verdächtig fotogene England, die auf den Bildern gerne lächelt oder den Daumen nach oben hält, bagatellisiert das als eine unwillkürliche Reaktion. Immer, wenn irgendwo eine Kamera in der Nähe sei, müsse sie automatisch solche Posen einnehmen. Offensichtlich auch, wenn sie dabei triumphierend auf einen nackten Gefangenen deutet. Vieles will sie zudem aus Liebe zu Graner getan haben, von dem sie im Irak schwanger wurde und der später ihre Rivalin Megan Ambuhl heiratete. Doch so sehr diese fünf meist jungen Soldaten sich mit ihren Ausflüchten auch selbst entlarven, so wenig geht es Morris darum, sie bloßzustellen. Vielmehr versucht er zu verdeutlichen, dass es sich bei ihnen in Wirklichkeit um ideale Sündenböcke handelt: Teile einer gigantischen, systematischen Folter- und Demütigungsmaschinerie. Das bestätigt auch Karpinski, die das Gleiche aber in anderen Interviews schon deutlicher gesagt hat: die oberste militärische Führung, Washington, sie alle hätten Folter und Misshandlungen hinter ihrem, Karpinskis, Rücken angeordnet. Doch gerade hier, wo es politisch und historisch brisant wird, dringt der Film nicht weiter vor. Vielleicht, weil er an die Grenzen seiner Recherchemöglichkeiten stößt — wie soll auch ein einzelner Kinofilm offen legen, woran sich Medien, Gerichte und Untersuchungsausschüsse samt und sonders die Zähne ausbeißen? Vielleicht aber auch, weil er sich zu wenig darum kümmert. Bewusst, sagt Morris, habe er diesmal – anders als zuletzt beim „Oscar“-prämierten „The Fog of War“ (fd 36709) – nicht die Strippenzieher in den Fokus gesetzt, sondern die kleinen Leute am Ende der Befehlskette. So präsentiert der Film Briefe Sabrina Harmans, in denen sie ihrem Entsetzen über die Misshandlungen Ausdruck verleiht, gleichzeitig aber auch ihrem Gefühl der Ohnmacht, auf das sie, nach eigenen Aussagen, reagierte, indem sie die Vorfälle fotografisch dokumentierte. Man erahnt also, dass es sich bei den Sieben um keine Einzeltäter handelt, keine „faulen Äpfel“, sondern dass vielmehr das gesamte System faul ist. In dieser zentralen Erkenntnis bleibt der Film allerdings vage. Notwendigerweise, weil abschließende Erklärungen von ihm unmöglich erwartet werden können. Aber auch unnötiger Weise, weil er manche Fragen nicht einmal stellt. Etwa, wieso es gerade diese zwölf Bilder waren, die um die Welt gingen? Eindrucksvoll erläutert Sonderermittler Brent Pack, wie er die Fotos aus Abu Ghraib analysierte, zeitlich zuordnete und juristisch bewertete. Dabei handelte es sich nicht um ein paar Dutzend oder Hundert Bilder, sondern um Tausende. Auch in Morris’ Film werden nur wenige davon gezeigt. Möglicherweise ist in dem geplanten Buch zum Film ja Raum für weitere Dokumente und auch für die im Kino vermissten Hintergründe; denn obwohl Morris „Standard Operating Procedure“ in der investigativen Tradition von „The Thin Blue Line” (1988) einordnet, führen seine Nachforschungen zu keinen spektakulären neuen Erkenntnissen. Die Stärke des Films liegt nicht in recherchierten Fakten, sondern darin, dass er den heuchlerischen Mythos von den „faulen Äpfeln“ grundsätzlich entkräftet. Eines macht „Standard Operating Procedure“ unmissverständlich klar: Die sieben Täter von Abu Ghraib sind nicht dafür verurteilt worden, dass sie irakische Gefangene misshandelten, sondern, weil sie sich dabei fotografieren ließen. Auch der Tod al-Jamadis, der in Abu Ghraib zu Tode gefoltert wurde, wäre nie öffentlich bekannt geworden, hätte Harman nicht seine Leiche fotografiert. Die Folterer gehörten übrigens nicht zu den „faulen Äpfeln“. Es waren Angehörige des CIA. Keiner von ihnen wurde verurteilt. Die Misshandlungen von Abu Ghraib stellen eben keine Perversion des Irak-Kriegs dar, sondern sie offenbaren lediglich die ihm innewohnende perverse Logik und politisch-militärische Strategie, an der sich, dafür hat US-Präsident Bush jüngst mit seinem Veto gegen ein Anti-Folter-Gesetz gesorgt, so schnell auch nichts ändern wird. Wer daran noch zweifeln wollte, den belehrt Morris am Ende mit einem Paukenschlag eines Schlechteren: Als Brent Pack gebeten wird, die auf den Bildern dokumentierten Vergehen unter juristischen Gesichtspunkten zu bewerten, spricht er zwar bei den Aufnahmen, auf denen die Gefangenen sexuell gedemütigt wurden, von kriminellen Handlungen. Die auf Schlafentzug angelegte Folterung „Gilligans“, dem gesagt wurde, wenn er von der Kiste, auf der er stehe, herunterfalle, werde tödlicher Strom durch die Drähte an seinen Handgelenken gejagt, nennt Pack dagegen militärischen Alltag. „Standard Operating Procedure“ eben. Dass Morris’ Dokumentation formal nie an „The Fog of War“ heranreichen kann, spielt spätestens da wirklich keine Rolle mehr.
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