Musicals haben Hochkonjunktur – nur nicht in den deutschen Kinos! Während auf den hiesigen Bühnen jedes prominente Singspiel für ausverkaufte Häuser sorgt, vereinen die fünf Leinwand-Musicals der letzten zwei Jahre kaum 600.000 Zuschauer auf sich – und das trotz „Oscar“-Gewinnern wie „Dreamgirls“
(fd 38 022) oder Starvehikel wie „Hairspray“
(fd 38 301). Keine guten Voraussetzungen für „Sweeney Todd“ – vielleicht resultiert daher die etwas seltsame Marketingkampagne des Verleihs, in dessen Trailer zum Film alles Mögliche passiert, nur möglichst wenig Gesang. Dabei ist „Sweeney Todd“ ein Musical wie es im Buche steht. Stephen Sondheim, einer der renommiertesten zeitgenössischen Musical-Komponisten Nordamerikas, vertonte 1979 den Stoff, der höchstwahrscheinlich eine Groschenroman-Serie aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Vorbild hat. Die Musikwelt zählt das mit neun Tonys ausgezeichnete Werk zu Sondheims Meisterstücken und zu den Top-Musicals überhaupt. In zweieinhalb Stunden geben die Sänger 24 Songs zum Besten und lassen nicht allzu viel Raum für gesprochene Dialoge; vier der Arien und Duette sind, zumindest im englischsprachigen Raum, veritable Evergreens. Doch all das erklärt nicht unbedingt die Tatsache, dass ausgerechnet Tim Burton sein Herz an dieses Stück verlor und es nun für die Leinwand adaptiert hat. Wenigstens hat der Regisseur, der mit „Nightmare Before Christmas“
(fd 31 095) zumindest schon ein Filmmusical produzierte, bei „Charlie und die Schokoladenfabrik“
(fd 37 179) bewiesen, dass er auch Sing- und Tanzeinlagen zu inszenieren weiß. Doch weniger das Musical-Sujet als vielmehr der morbide Stoff dürfte es gewesen sein, der den Regisseur zur Übernahme des Auftrags bewogen haben dürfte. In der Tat kann man sich keinen besseren Spielleiter für „Sweeney Todd“ – den Film – vorstellen als Burton. Zum Œuvre des ewigen enfant terrible des schwarzromantischen Grusels, das mit Geniestreichen wie „Beetle Juice“
(fd 31 141), „Ed Wood“
(fd 31 408), „Corpse Bride“ (fd 37 296; wie „Nightmare Before Christmas“ ein „Puppenmusical) oder „Edward mit den Scherenhänden“
(fd 28 836) reüssierte, passt der Stoff jedenfalls bestens: die Geschichte um einen Barbier, der aus Rache für lange Jahre ungerechter Gefängnishaft und eine verlorene Liebe der Kundschaft reihenweise die Kehle durchschneidet. Die besonders blutrünstige Handlung, die mit dem „appetitlichen“ Kniff, dass die Opfer als Fleischfüllung in den Pasteten einer in Todd verliebten Bäckerin landen, zusätzlich ins Groteske driftet, ist geradewegs aus dem „Théâtre du Grand Guignol“ entsprungen, von dem Burtons gesamtes Werk beseelt ist. Und so ist es nicht zuletzt Burton zu verdanken, dass eines genau nicht entstanden ist: ein biederes, von Stimmakrobatik getriebenes, glattes Musical à la Andrew Lloyd Webber. In seinem „Sweeney Todd“ kommt der ganze Schmutz, die ganze Kantigkeit, die ganze Rauheit zum Tragen, die man von einem musikalischen „Schau“-Spiel erwarten darf. Ganz ungezwungen dürfen sich Darsteller in Moritaten profilieren, die vielleicht wie im Falle von Helena Bonham Carter oder Alan Rickman an die Grenzen des musikalisch Tragbaren gehen, nichtsdestotrotz oder gerade deshalb aber wunderbar sind. Wie in Musicals oder Opern nicht anders zu erwarten, ist die Handlung – das Libretto – gelinde gesagt banal: Der um seine geliebte Frau und seine kleine Tochter betrogene Todd kommt nach langen Jahren zurück in seine Heimatstadt London, um sich an seinen Peinigern – zuvorderst dem drakonischen Richter Turpin – dafür zu rächen, dass er unschuldig inhaftiert wurde, seine Ehefrau wohl den Freitod wählte und die Tochter fortan als Mündel im Hause des Richters ein unglückliches Leben fristen musste. Den Racheplänen kommt dabei zu pass, dass eine grantige Bäckerin, Mrs. Lovett, den verbitterten Heimkehrer in das Haus aufnimmt, in dem er auch vor der Katastrophe lebte, und ihm seine alte Barbier-Stube überlässt. Sie wird zu Todds Verbündeter und profitiert ihrerseits von seinen Machenschaften, da ihre Pasteten-Bäckerei dank Todds reichlicher „Frischfleischlieferungen“ einen ungeahnten Aufschwung erlebt. Das Entscheidende eines jeden Musicals sind die Musik-Nummern. Sondheim selbst hat sie den filmischen Gegebenheiten angepasst und das Arrangieren von Zwischenaktmusiken, der Filmmusik, beaufsichtigt, um alles entsprechend zur Geltung zu bringen. Herausgekommen sind bekannte, aber im neuen Kontext dennoch überraschend gruselig-schöne Tableaus. Das liegt nicht zuletzt an Burtons Besetzungs-Coups. Helena Bonham Carter als rotzige Mrs. Lovett oder Alan Rickman als snobistischer Richter und Timothy Spall als dessen schleimiger Diener Beadle Bamford sind perfekt gecastet; einzig die beiden Sidekicks Jayne Wiesener als Todds Tochter Johanna und Jamie Campbell Bower als deren Liebhaber sind eher Überbleibsel traditionell-schwülstiger „Broadway-Kultur“. Die Überraschung ist jedoch – einmal mehr – Johnny Depp. Als Stammdarsteller in Burtons Filmen ist er nicht nur die naheliegendste Besetzung, sondern ein Glücksfall. Als verwegene Mischung zwischen „Edward mit den Scherenhänden“ und Hannibal Lecter ist sein Sweeney nicht nur darstellerisch eine Augenweide, sondern auch gesanglich bemerkenswert. In Duetts wie „No Place Like London“ (mit Bower) oder „My Friends“ (mit Bonham Carter) treibt er seine Partner zu gesanglichen Höhenflügen, und in seiner Pracht-Arie „Epiphany“ sorgt er für Gänsehaut und empfiehlt sich für einen „Oscar“. Tim Burton vertraut ganz auf die Aura seiner Darsteller in den grauroten Welten des Art Directors Dante Ferretti. Inszenatorisch sehr dezent, ist er sinnbildlich wieder zum finsteren Dachboden zurückgekehrt, in dem schon sein Sonderling Edward Zuflucht fand. Sicherlich ist „Sweeney Todd“ das perfekteste Filmmusical der letzten zwei Jahre. Vielleicht öffnet es dem Genre endlich auch in Deutschland die Tür zum Kino-Erfolg.