Es ist Nacht, und der junge Ausreißer ist ganz allein. Keine Gretel begleitet ihn, kein Kiesel strahlt im Mondlicht, nur die reißenden Tiere lauern im Gehölz. Gerade hat Oleg seinen gewalttätigen Stiefvater angeschossen und auf einem alten Fabrikgelände Schutz gesucht. Doch das Lager ist schon vergeben: Ein Junkie nimmt Oleg seine Pistole ab und nötigt ihn, beim Überfall auf einen Drogenhändler mitzuhelfen. Es gibt ein tödliches Handgemenge, dem der Zehnjährige mit knapper Not entkommt – den Revolver nimmt er, klug geworden, mit. Als nächstes begegnet er einem Zuhälter, der eine seiner „Angestellten“ auf offener Straße malträtiert. Erst kommt Oleg ihr zu Hilfe, dann sie ihm, und schließlich gehen sie gemeinsam ein Stück des Weges, bis eine Razzia sie wieder trennt. Oleg wird in Polizeigewahrsam genommen, aber deswegen ist er noch lange nicht in Sicherheit.
Das Actionkino ist eigentlich kein Ort für Kinder, es sei denn als Mündel einer Dramaturgie von Vigilantentum und Rettung. Der Sohn oder die Tochter des Helden wird entführt – danach ist kein Blutzoll mehr zu hoch, um die Verbrecher ihrer als gerecht empfundenen Strafe zuzuführen. Ungleich interessanter behandelt Wayne Kramer in „Running Scared“ die Kinderfrage, wenn er seiner auf Hochspannung getrimmten Handlung den doppelten Boden einer traditionellen Lesart entzieht. Spätestens als der Junge in einem modernen Hexenhaus gefangen ist, ahnt man, dass unter den Straßen von New Jersey der Humus des Grimmschen Märchenwaldes liegt – auch in den meisten erwachsenen Figuren flieht ein Kind vor traumatischen Erinnerungen. Auf den ersten Blick könnte man „Running Scared“ für eine Adaption der Serie „24“ halten. Die zeitlich dicht gedrängte, in mehrere Stränge aufgeteilte Handlung beginnt mit einer Drogenübergabe, in die drei maskierte Gangster platzen. Nach einem Schusswechsel bleiben zwei von ihnen tot zurück, und die überlebenden Mafiosi stellen mit Erstaunen fest, dass es sich bei ihnen um Polizisten handelt. Der Mafia-Handlanger Joey Gazelle wird beauftragt, eine kompromittierende Waffe verschwinden zu lassen, doch stattdessen versteckt er sie als persönliche Lebensversicherung im Keller seines Hauses. Dabei wird er von seinem Sohn und dessen bestem Freund Oleg beobachtet. So nimmt die Geschichte ihren Lauf; mit allen Mitteln muss Joey die Waffe und den Jungen finden, bevor es die Polizei oder seine Auftraggeber tun.
Wenn man sich fragt, warum die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm so grausam sind, stößt man entweder auf ihren historischen Kern, den Dreißigjährigen Krieg, oder auf die menschliche Natur als solche. Dass unsere Gesellschaft ein unwirtlicher Ort ist und der Realismus des Märchens ein legitimes Mittel, ihre Gräuel zu beschreiben, darf man getrost für Wayne Kramers Überzeugung halten. Wie im Märchen sind auch in „Running Scared“ logische Aussetzer und psychologische Kurzschlüsse zu finden – ganz zu schweigen von der charakterlichen Überzeichnung sämtlicher Figuren. Doch kann man die These, dass diese Welt kein Ort für Kinder ist, trefflicher illustrieren als mit Motiven aus dem Grimmschen Schreckensarsenal? Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf – und keine Figur bleibt davon ausgenommen. Selbst in dramaturgischen Verschnaufpausen wie intimen Momenten zwischen Eheleuten, einer väterlichen Einstimmung auf das Wochenende oder einem Abendessen am Familientisch ist die Atmosphäre von unterschwelliger Gewalt erfüllt. Wayne Kramer (u.a. „The Cooler – Alles auf Liebe“, fd 36 395) erweist sich auch in seinem vierten Spielfilm als galliger Porträtist der menschlichen Gesellschaft. „Running Scared“ ist ein denkbar düsteres Werk und ein klassisches Beispiel dafür, wie man seine Weltanschauung in einen Genrefilm verpackt. Zur bleibenden Erzählkunst fehlt Kramer gleichwohl noch ein Stück; für eine Reflexion der Gewalt und ihrer Auswirkungen nimmt er die filmischen Mittel zu sorglos in die Hand – um nicht zu sagen, dass ihm seine Faszination für die Tugenden des Actionkinos in die Quere kommt. Bei aller Liebe zur beschleunigten Erzählung hätte er seine märchenhafte Botschaft auch etwas weniger atemlos entfalten können.