Eine impulsive Künstlerin, die sich ihr Geld mit Gelegenheitsjobs verdient, verliebt sich in einen frisch geschiedenen Schuhverkäufer, was sie mit neuen Erfahrungen, Kindern und Heranwachsenden konfrontiert. Ein interessanter multiperspektivisch angelegter Blick auf die Glanzlosigkeit des Alltagslebens mit seinen kleinen und großen Überraschungen. Überzeugende Darsteller und eine intelligente Inszenierung sichern den unspektakulären Geschichten ihren Reiz.
- Ab 14.
Ich und Du und Alle, die wir kennen
- | USA/Großbritannien 2005 | 91 Minuten
Regie: Miranda July
Kommentieren
Filmdaten
- Originaltitel
- ME AND YOU AND EVERYONE WE KNOW
- Produktionsland
- USA/Großbritannien
- Produktionsjahr
- 2005
- Produktionsfirma
- IFC Films/Film Four
- Regie
- Miranda July
- Buch
- Miranda July
- Kamera
- Chuy Chávez
- Musik
- Mike Andrews
- Schnitt
- Andrew Dickler · Charles Ireland
- Darsteller
- John Hawkes (Richard Swersey) · Miranda July (Christine Jesperson) · Miles Thompson (Peter Swersey) · Brandon Ratcliff (Robby Swersey) · Carlie Westerman (Sylvie)
- Länge
- 91 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
In „Ich und Du und Alle, die wir kennen“ belehrt eine Museumskuratorin ihre Assistentin, dass für eine geplante Ausstellung nur Kunstwerke in Frage kämen, die wegen ihres starken Gegenwartsbezugs zu keiner anderen Zeit hätten entstehen können. Wenn man später beide Frauen bei der Auswahl der Exponate sieht, ist vom hochtrabenden Anspruch nicht mehr viel übrig. Stattdessen wird lustlos abgewogen, ob sich genug Afroamerikaner und Frauen unter den ausgewählten Künstlern befinden und welche Medien eventuell unterrepräsentiert sind. Diesem Spott auf den Kunstbetrieb liegen wohl Erfahrungen aus erster Hand zugrunde, denn Miranda July hat selbst in renommierten Museen ausgestellt. Die Regisseurin, Drehbuchautorin und Hauptdarstellerin dieses Spielfilmdebüts arbeitet sonst mit unterschiedlichen Medien, vom Internet über Video bis zu Sound-Installationen, wobei sie oft wie die Hauptfigur des Films, die Nachwuchskünstlerin Christine, in verschiedenen Tonlagen wechselnde Rollen spricht.
Dass July dem Kunstbetrieb in kleinen Seitenhieben seine Prätentionen vorwirft, verwundert nicht, denn ihr Film wirkt ganz und gar unprätentiös. Während man sich über den Eigensinn des Personals und über leichthändig vorgetragene und mitunter poetische Kuriositäten amüsiert, fällt kaum auf, welch profunde Themen beiläufig berührt werden. Der Film, der in der Sundance Drehbuchwerkstatt vorbereitet wurde, verzichtet in bester Independent-Tradition auf eine feste Handlung und schafft zwanglose Gelegenheiten für etwa ein Dutzend Figuren, einander zu begegnen. Als Christine, die ihre Kunst als Chauffeurin für Senioren finanziert, einen betagten Stammkunden zum Kauf eines Paars Turnschuhe begleitet, verliebt sie sich in den Schuhverkäufer Richard. Der hat sich soeben von seiner Frau getrennt und mit seinen beiden Söhnen Peter und Robby ein kleines Apartment bezogen, das, wie sich herausstellt, in unmittelbarer Nähe zur Wohnung seines Kollegen liegt. Der reagiert wiederum auf die pubertäre Koketterie zweier Mädchen aus der Nachbarschaft, indem er anfängt, obszöne schriftliche Botschaften ins Fenster zu hängen. Die Mädchen Heather und Rebecca haben unterdessen den 14-jährigen Peter zum Objekt ihrer anzüglichen Provokationen erkoren. Während sich in den Dialogen die Zeit als zentrales Thema herausschält, fällt auf, dass die Kinder und Teenager alle dem Erwachsenwerden vorgreifen, sei es, dass sie, wie eine Mitschülerin von Peter, vorsorglich allerlei Haushaltsgeräte als Aussteuer für eine zukünftige Heirat kaufen; sei es, dass sie wie Rebecca und Heather die Peinlichkeit des „ersten Mal“ hinter sich bringen wollen. Dabei verleiht July einer kokett-beiläufigen sexuellen Übung eine lapidare Selbstverständlichkeit, die von den Provokationen eines Todd Solondsz ebenso weit entfernt ist wie von Larry Clarks morbider Romantik. Wenn sich der siebenjährige Robby beim unbeaufsichtigten Surfen im Internet veranlasst sieht, eine sexuelle Fantasie zu entwerfen, klingt das Resultat wiederum für erwachsene Ohren völlig verrückt (und, je nach Geschmack, unfassbar komisch), während klar ist, dass für diese Figur – sowie für ihren jungen Darsteller – die Sache eine merkwürdige unschuldige Abstraktion bleibt.
In diesen Szenen, geprägt vom einer sensiblen Führung der jungen Schauspieler, gelingt July eine ungeheure Gratwanderung: Sie behandelt kindliche und jugendliche Sexualität mit größtmöglichem Takt, ohne peinliche Verschämtheit oder gar Hysterie. Dabei ignoriert sie keineswegs reale Gefahren; pädophile Szenarien werden jedoch abgewendet beziehungsweise entpuppen sich als kurioses Missverständnis. Während sich die Kinder heimlich mit unschuldigen Sex-Fantasien beschäftigen, hoffen die Erwachsenen, dass die Liebe sie aus ihrem Alltag reißen möge. Gleich in der ersten Szene hört man, wie Christine als Soundtrack für ein Video einen Schwur zweier imaginärer Liebender spricht, die einander geloben, ihr Leben voll auszukosten und jeden Tag so zu leben, als wäre es der letzte. Richard sagt wiederum seinem Kollegen, dass er nicht einfach nur leben wolle: „Ich bin bereit für erstaunliche Ereignisse, ich kann damit umgehen!“ Während er das sagt, geht er freilich einer denkbar banalen Beschäftigung nach – er räumt Schuhkartons weg. Die Glanzlosigkeit des Alltags der beiden Hauptfiguren spiegelt sich auch in den Wohnungseinrichtungen. Wie in einer Totalen kurz zu erkennen ist, ist Christines Apartment offenbar so klein, dass Mikrowelle und Kühlschrank nur im Wandschrank Platz finden; und Richards neue Bleibe erscheint als unfreiwilliges Exil. Der Eindruck schlichter Banalität wird dabei noch dadurch unterstrichen, dass Chuy Chávez auf Video gedreht hat. Weil Chávez und July in der Regel einen nüchternen Blick auf das Geschehen werfen, reichen ihnen indes musikalisch unterlegte Totalen und gelegentliche Zeitlupen, um besondere Momente hervorzuheben. Der eigenwillige Zauber des Films ergibt sich auch daraus, dass die Figuren inmitten der Banalität ihres Alltags einen Vorgeschmack auf das erhoffte erfüllte Leben erhalten. In einer Szene, deren federleichte Poesie gar nicht zu beschreiben ist, malen sich Christine und Richard aus, dass der kurze Fußweg von einer Shopping Mall bis zum Parkhaus ein glückliches gemeinsames Leben darstelle. Dabei ist jeder Moment mit Bedeutung gefüllt. Wie der Film ganz zum Schluss in Erinnerung ruft, mag selbst sinnloser Zeitvertreib eine mysteriöse Schönheit bergen.
Kommentar verfassen