Joanne K. Rowling muss sehr viel gelesen haben, bevor sie mit ihrem ersten „Harry Potter“-Roman begann und die Geschichte des Zauberschülers ziemlich unbekümmert mit nahezu allem „würzte“, was ihr die englische (Jugend-)Literatur von Charles Dickens bis Roald Dahl an Zutaten bot. Kaum etwas, das es – zumindest in der Ausgangskonstellation des inzwischen mäandernden Potter-Zyklus' – nicht schon in anderen Zauberbüchern gegeben hätte: bei Eva Ibbotson („Das Geheimnis von Bahnsteig 13“) etwa oder bei Diana Wynne Jones, der ultimativen „Klassikerin“ der englischen Kinderliteratur, die u.a. in ihren Romanen aus der „Welt des Chrestomanci“ eine ganz eigene, hintergründige und höchst subtile Sicht der Welt auffächert. Wynne Jones – nicht weniger als Rowling durch die Bücher von C.S. Lewis und Tolkien sozialisiert – dürfte es auch gewesen sein, die Harry Potters Zauberschule Hogward (mit-)inspirierte, als sie 1986 in ihrem Roman „Howl’s Moving Castle“ (dt. „Sophie im Schloss des Zauberers“) ein fliegendes Schloss erfand, das nur eigenen Gesetzen und Ordnungen gehorcht, dabei Raum und Zeit relativiert und Wege in die unterschiedlichsten Welten und Sphären öffnen kann. Wahrscheinlich wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ein gewiefter Hollywood-Produzent erkannt hätte, dass der Stand der Computer-Technik ausgereift genug ist, um aus „Howl’s Moving Castle“ amerikanisches Family Entertainment zu machen – wenn sich nicht der japanische Anime-Meister Hayao Miyazaki der Geschichte angenommen hätte, um, bei allem erkennbaren Respekt vor Diana Wynne Jones, damit seinen eigenen, narrativ wie ästhetisch unverwechselbaren Kosmos fortzuspinnen.
Wynne Jones’ Roman ist ein überbordendes Füllhorn an Einfällen, die als zusammenhängende Geschichte nur begrenzt zusammenzufassen sind. Das Prinzip des schwebenden Schlosses hat sich die Autorin zur Grundlage ihrer eigenen Erzähltechnik gemacht, sodass man als Leser nie weiß, was sich hinter der nächsten Tür bzw. dem nächsten Kapitel an überraschenden Wendungen verbirgt. Das verfügt über keinen sonderlich dramatischen Atem und steigert sich auch kaum zu spektakulären Höhepunkten, sondern verkostet vielmehr die stillen, retardierenden Zwischenszenen, in denen sich Wynne Jones auf skurrile Details, poetische Besinnlichkeit und vor allem eine virtuos unterspielte Leichtigkeit des Fabulierens konzentriert. Dabei regt nichts noch so Ungewöhnliches Sophie, die junge Heldin und Hutmacherin, wirklich auf; fast beiläufig akzeptiert sie das vermeintlich Unmögliche und fügt sich schnell in das, was ihr widerfährt. Und das ist einiges: Unbeabsichtigt stört Sophie eines Tages die Kreise einer bösen Hexe, die aus der stillen, wenig selbstbewussten jungen Frau mit einer einzigen Geste eine 90 Jahre alte Greisin macht. Da der Fluch von anderen Menschen nicht wahrgenommen werden kann und fortan keiner mehr Sophie erkennt, schickt sie sich wütend, aber doch beherrscht in ihr Schicksal, verlässt Heim und Werkstatt, um sich als alte gebeugte Frau auf eine einsame Wanderung ohne Ziel und Absicht zu machen. Dass sie dabei ins Zauberschloss des berüchtigten Zauberers Howl gelangt, der die Herzen junger Mädchen reihenweise bricht, mag nur ein weiterer Zufall sein, setzt jedoch eine Kette turbulenter Ereignisse in Gang, an deren Wendungen Sophie deutlichen Anteil hat. Sie begegnet dem Dämon Calcifer, der in ein Kaminfeuer eingesperrt ist und dessen Schicksal auf geheimnisvolle Weise mit Howl (im Film Hauro) verknüpft ist, sowie Howls jungem Zauberschüler Michael; sie mischt als Putzfrau Howls Schloss auf und gerät zunehmend in Intrigen, Geheimnisse und die Kämpfe der Zauberer, die am Ende alle um ein Thema kreisen: um die große Liebe und das ausschließlich dafür schlagende menschliche Herz.
Dieses vielfältig aufgefächerte romantische Sujet bietet Miyazaki Anlass für eine atemberaubende Visualisierung des Geschehens, die geprägt ist von betörender Schönheit und Poesie. Ohne je in den Verdacht eklektischen Denkens zu geraten, kreiert Miyazaki eine gezeichnete (Kunst-)Welt aus „europäischen“ Versatzstücken, wie sie von den magischen japanischen Zwischenreichen in „Chihiros Reise ins Zauberland“
(fd 36 002) kaum weiter entfernt sein könnten – und wie sie zugleich deutlich auf die naiven Naturidyllen mit satten Bergwiesen und Schnee bedeckten Bergen aus Miyazakis früher „Heidi“-Serie verweisen. Es ist eine Zuckerguss-Pracht voll bunten Kitsches, ohne dass man dies wirklich als kitschig empfinden würde: stilgerechte Fachwerkhäuser wie aus alten Elsass-Dörfern, Biedermeier-Ambiente in den Läden und Wohnungen eines zu Geld und Ansehen gelangten Bürgertums, städtische Kulissen zwischen Prager Jugendstil-Prunk und Wiener Kaffeehaus-Pracht, schließlich Paläste, Säle und Gewächshäuser wie aus Kaiserin Sissis Lebenswelt. All diese Versatzstücke des (späten) 19. Jahrhunderts kreuzen sich mit Elementen des anbrechenden Industriezeitalters, das sich mit Dampf getriebenen Maschinen, Flugzeugen und Transportmitteln gnadenlos eine Schneise bahnt. Dass in dieser Welt die Magie ihren angestammten Platz behauptet und die „konkrete“ rationale Welt noch Spiel- und Kampfplatz für Hexen und Zauberer ist, verweist indes ebenso elegant wie spielerisch auf Miyazakis Filme, die gleichfalls von Dämonen und Geistern bevölkert sind, die den Menschen mal gut, mal weniger gut gesonnen sind. Wie Chihiro oder Ashitaka in „Prinzessin Mononoke“
(fd 34 790) ist auch Sophie eine Wanderin zwischen den Welten, die die Konflikte, in die sie in Zeiten dramatischer Umbrüche eingreift, noch einmal zu Harmonie und idealisiertem Gleichklang formt, indem sie zu Selbstbewusstsein und einem tiefem Verständnis für den Wandel der Dinge und der Zeiten heranreift.
Miyazaki folgt dem „Geist“ der Buchvorlage respektvoll, ohne freilich davor zurückzuscheuen, ganze Handlungssegmente neu zu gewichten oder Figuren völlig anders zu „besetzen“. Im Roman uneindeutigere, gar bedrohliche Gestalten wie eine Vogelscheuche, die Sophie verfolgt, werden bei ihm zu skurril-liebenswerten Verbündeten, um damit um so größeres Gewicht auf einen Feind zu lenken, der im Buch lediglich angedeutet wird, für Miyazaki aber die ultimative Bedrohung der menschlichen Zivilisation darstellt: Dampfkraft und moderne Technik forcieren die Kriegstreiberei nationalistischer Staaten, die ein wahres Inferno der Zerstörung und der Vernichtung entfesseln – mit stählernen Fluggeräten, die den Himmel verdunkeln und die irdische Idylle in ein wahres Höllenfeuer der Zerstörung verwandeln. Solche Kriegsbilder sind nicht weniger bombastisch als die „satten“ Szenen eines friedvollen Daseins, die sie zunehmend verdrängen. Am Ende kehrt Miyazaki wieder zur eigentlichen Romanfabel zurück, indem verzauberte Wesen erlöst werden und ihre wahre Identität preisgeben. Das soll versöhnen, doch die Balance zwischen fataler Düsternis und utopischer Hoffnung auf die Kraft der Liebe will sich, ob gewollt oder ungewollt, nicht mehr einstellen. Die unbekümmerte Fabulierfreude ist den Schatten sorgenvoller Skepsis angesichts einer Welt gewichen, die auf Dauer selbst durch Magie und Zauberei, Standhaftigkeit, Toleranz und unverbrüchliche Liebe nicht mehr zu retten scheint.