Wer auch immer vorschnell behauptet hat, die hohe Zeit spielerisch-postmodernen Erzählens sei vorüber. wird von „Mathilde – Eine große Liebe“ eines Besseren belehrt: einer einfachen Geschichte über die Kraft der Liebe in Nachkriegswirren, die übermütig und mit atemberaubender Lust am Fabulieren in allerlei Nebenhandlungen, Subtexten und Ellipsen solange variiert, gespiegelt und mit Ornamenten und Inversionen verziert wird, bis sich der Eindruck eines polyphonen Epochenbildes aus Versatzstücken aus zweiter Hand einstellt: ein Pastiche aus lauter Medienbildern jener Zeit, in der der Film spielt.
Er beginnt in den Schützengräben der Westfront des Ersten Weltkriegs: Fünf Soldaten, darunter Matildes blutjunger Verlobter Manech, sind wegen Selbstverstümmelung zum Tode verurteilt worden. Um Munition zu sparen, werden die Verurteilten im Niemandsland an vorderster Front ausgesetzt, damit sich das Urteil im Verlauf der unübersichtlichen und blutigen Kampfhandlungen von selbst vollstrecke. Die Darstellung des Grabenkrieges ist derart ekelerregend realistisch, die dumpfe Logik des Militärischen so offensichtlich, dass die Sympathie automatisch bei denen liegt, die sich aus Verzweiflung dem schwachsinnigen Gemetzel entziehen wollen. Doch das perfide Hinrichtungsszenario misslingt, die Spur der fünf Verurteilten verliert sich in den Kriegswirren, unterschiedliche Versionen über ihr Schicksal kursieren, was allerdings niemand erführe, weil kaum Interesse daran besteht, den Kriegsverbrechen im eigenen Lager nachzuforschen, da es jetzt doch gilt, Karrieren fortzu-schreiben. Wäre da nicht Mathilde, die große Liebende, gespielt von Audrey Tautou mit jenem verschwörerischen Blick in die Kamera, der sie in „Die fabelhafte Welt der Amélie“
(fd 34 999) berühmt machte. Mathilde fühlt, dass ihr Verlobter am Leben ist, und sie vertraut ihrer Intuition, so wie sie gerne und wiederholt mit dem Schicksal Wetten abzuschließen liebt. Beharrlich stellt sie Nachforschungen an, wobei sie sich von einem Detektiv unterstützen lässt und Zugang zu geheimen Militärarchiven bekommt. Wann immer sich die Spur von Manech im Gerüchte-Dschungel und Geflecht der Halbwahrheiten verliert, findet sich ein Anhaltspunkt, um einer alternativen Spur nachzugehen.
„Mathilde“ ist ein rasant erzählter Film, dessen visuelle und narrative Fantasie immer wieder für Überraschungen sorgt. Beherzt springt er zwischen Zeiten, Orten und Erzählperspektiven; so werden auch die vier anderen kriegsmüden Soldaten, die mit Manech zum Tode verurteilt wurden, mit pointierten Biografien ausgestattet, seien sie nun heißblütig-archaische Korsen mit reichlich krimineller Energie oder politische Aufklärer mit Kommunikationsproblemen. Auch diese Männer lassen Frauen zurück, die auf unterschiedliche Weise versuchen, ins Geschehen einzugreifen. Da gibt es eine Marktfrau, die verzweifelt versucht, sich vom besten Freund ihres Mannes schwängern zu lassen, um ihren Mann als Vater von sechs Kindern vom Fronteinsatz zu befreien. Leider verliebt sich sich dabei in den Freund. Es spricht für den Reichtum des Films, dass er es sich leistet kann, in dieser Rolle Jodie Foster einen unkreditierten Auftritt zu gönnen. Auch andere Nebenfiguren wie der findige Selbstversorger, der an vorderster Front Lebensmittel „organisiert“ und eine blutig verlaufende Attacke für die Überlebenden in einen Vorteil ummünzt, werden prägnant so weit entwickelt, dass die entscheidenden Momente für einen farbigen Effekt sorgen. Auch wird ganz nebenher die Liebesgeschichte von Matilde und Manech aus der Zeit vor dessen Zwangsrekrutierung nachgereicht. Mit großer Meisterschaft greift Jean-Pierre Jeunet liegengebliebene Fäden auf, indem er den Blickwinkel aufs Geschehen verändert – weshalb scheinbar Tote immer wieder auferstehen und vergeblich versuchen, ihre Spuren zu verwischen. Während sich die Darstellung der Front bei einschlägigen Vorbildern wie „Wege des Ruhms“ (fd 6 371) oder „Im Westen nichts Neues“ (fd 1 684) bedient, wirken andere Bilder, etwa Mathildes Leben in der Bretagne, wie Ausschnitte aus verblichenen Familienalben.
Während Mathilde unermüdlich nach Manech sucht, rechnet eine andere Frau – Tina Lombardi – in einem privaten Rachefeldzug mit den verantwortlichen Militärs ab. In diesen sinistren Handlungsstrang schleichen sich Erinnerungen an Filme von Louis Feuillade in den Film. So gelingt es dem Film tatsächlich, vieles zugleich und dabei immer augenzwinkernd ironisch zu sein: melodramatische Liebesgeschichte, Komödie mit surrealen Zügen, mysteriöse Detektivgeschichte, zorniger Antikriegsfilm. Durch die Souveränität, mit der all die unterschiedlichen Handlungsfäden zusammengehalten werden, kommt sogar noch etwas Fantasy ins Spiel, weil hier ein „Geist der Erzählung“ (Thomas Mann) waltet, der am Rande auch noch von vergessenen Hoffnungen wie Anarchismus und Klassenkampf erzählt. Durch ein präzises Casting – und allerlei alte Bekannte aus früheren Filmen Jeunets wie Ticky Holgado oder Dominique Pinon – erhält man prägnante Gesichter als Orientierungsmarken innerhalb eines unübersichtlich mäandernden Handlungsgeflechts an die Hand; auch ist die Farbdramaturgie stimmig wie selten und changiert zwischen Grauen und Nostalgie. Von Baudelaires „Albatros“ ist es nur eine kleine Assoziation weit zum deutschen Kampfflugzeug gleichen Namens, das Manechs Schicksal zu werden droht. Während Mathilde schon per Telefon ermittelt, sorgt ein liebevoll ausgebreiteter Running Gag dafür, dass sich der heutige Zuschauer an den Postboten Jacques Tati „erinnert“, obwohl der Film zu diesem Zeitpunkt um 1920 spielt. Einerseits ist dies ein aberwitziger Flash Forward in der Geschichte, die den Erzählrahmen endgültig sprengt, andererseits ist es schlichtweg zum Niederknien sympathisch.