Drama | Deutschland 2004 | 94 Minuten

Regie: Angela Schanelec

Eine junge Frau verbringt einige Zeit in Marseille, bevor sie nach Berlin zurückkehrt. Ihre Freundin, eine von Alltag und Familie überforderte Theaterschauspielerin, und deren Mann, ein Fotograf, leben eine sprachlose, entfremdete Beziehung, in die sie sich verstrickt, bis sie wieder nach Marseille reist. Doch der neuerliche Auf- und Ausbruch beginnt ernüchternd. Eine in langen, statischen Einstellungen und präzisen Bildkompositionen entwickelte Reflexion über Einsamkeit, Orientierungsverlust und die Suche nach einem Platz im Leben. Die vielen Auslassungen in der Erzählung verlangen die Kreativität des geduldigen Zuschauers, der sich den Reichtum des ebenso präzisen wie poetischen Films selbst erschließen muss. - Sehenswert.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Schramm Film Koener & Weber/ZDF/arte/Neon Prod.
Regie
Angela Schanelec
Buch
Angela Schanelec
Kamera
Reinhold Vorschneider
Schnitt
Bettina Böhler
Darsteller
Maren Eggert (Sophie) · Marie-Lou Sellem (Hanna) · Devid Striesow (Ivan) · Friederike Kammer (Schauspielerin) · Wolfgang Michael (Schauspieler)
Länge
94 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Irgendwann, vielleicht nach einem guten Drittel des Films, katapultiert einen ein unspektakulärer Schnitt ohne jede Vorwarnung binnen einer Sekunde durch Zeit und Raum, und man landet vom bisherigen Schauplatz Marseille auf einer nächtlichen Straße in Berlin. Mit leichter Verzögerung nimmt man wahr, dass eine junge Frau deutsch spricht, als sie Sophie nachläuft, ihr etwas gibt, das diese vor langer Zeit vergessen hat, und bekräftigt: „Ja, ich habe mich an Sie erinnert!“ Sophie hat wohl doch eine Spur in ihrem Leben hinterlassen, und dass die junge Frau, Verkäuferin in einem Hamburger-Shop, von Sophie Aigner gespielt wird, ist durchaus mehr als nur ein koketter Insider-Gag der Regisseurin Angela Schanelec: Sophie Aigner spielte einst die Hauptrolle in ihrem Film „Plätze in Städten“ (fd 33 700), und jetzt „schenkt“ sie der zentralen Gestalt in „Marseille“ nicht nur ihren Vornamen, sondern zeigt sich ihr in diesem kurzen Moment auch als Gleichgesinnte, quasi als Verbündete, die um die Einsamkeit und die innere Unruhe, um die rastlose Suche nach einem „Platz im Leben“ weiß. Die Stadt Marseille war zuvor Anlaufstelle der „aktuellen“ Sophie. Dort hatte sie ein ungastliches Appartement bezogen, das sie auf Tauschbasis von einer Französin übernommen hatte. Ebenso wenig einladend präsentierte sich ihr die Hafenstadt, die ihr nur allmählich einen Zugang erlaubte, sie aber vorwiegend isoliert und vereinsamt ließ. Sophie fotografierte, lernte einen jungen Mechaniker kennen, der ihr sein Auto für einen Tagsausflug lieh, sie tanzte einmal in einer arabischen Bar – und dann war sie schon wieder in Berlin. Hier nimmt sie ihren Alltag auf, was man eher erahnt als sieht, und für eine gewisse Zeit gerät Sophie sogar ganz aus dem Blickfeld, das nun ihre Freundin Hanna besetzt, eine vom Alltag überforderte Theaterschauspielerin und Mutter. Hannah ist mit dem Fotografen Ivan verheiratet, eine wort- und berührungsarme Beziehung, in der alles Wichtige unausgesprochen bleibt: Gefühle und Ängste, Ansprüche und Bedürfnisse. Ivan porträtiert Arbeiterinnen in einer Fabrik, Hanna übt Tschechows „Die Möwe“, und man sieht eine lange Szenenprobe, in der sie eine kleine Rolle hat, ebenso ausführlich wie man Ivans Fotositzung erlebte. Vielleicht empfindet sogar Sophie etwas für Ivan, gibt es ein Hingezogensein, das Hanna intuitiv zwar erahnt, aber in ihrer fahrigen, von unterschwelliger Panik durchfluteten Art sprachlich nicht fassen kann. Wenige Andeutungen im Gespräch zwischen ihr und Sophie reichen indes aus: Kurz darauf verlässt Sophie Berlin, um erneut nach Marseille aufzubrechen – diesmal vielleicht für länger.

Einmal mehr stellt Angela Schanelec mit ihrer konsequent-radikalen Erzählweise der „entschleunigten“ Beobachtungen unvorbereitete Betrachter auf eine Geduldsprobe. Lange, nahezu ungeschnittene Einstellungen mit zumeist statischer Kamera bieten präzise visuelle Arrangements, die detailund nuancenreich innere wie äußere Räume umspannen und bei aufmerksamer Betrachtung zu mannigfaltigen Geschichten anregen – während man zugleich stets spürt, dass jede Szene und jede Bildinformation doch nur Ausschnitt aus einer viel größeren Geschichte ist, die zwar abwesend bleibt, aber doch alles prägt. Geradezu meisterhaft versteht es die Regisseurin, mit ihrer asketisch- stilisierten Erzählweise den Blick des Betrachters zu lenken, sodass man sogar noch glaubt, innerhalb der weiten Totale über die Ausfallstraßen Marseilles unter den zahllosen winzigen Autos jenes von Sophie zu entdecken. Dabei baut sich ein intensives Spannungsverhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem Nicht-Sichtbaren außerhalb einer Einstellung auf; wobei sich Angela Schanelec demonstrativ der Konvention des Schnitt-Gegenschnitts verweigert, sodass man immer rätseln muss, was etwa Sophie denn nun sieht, was sie fotografiert. Daraus resultiert die singuläre filmische Sprache der Regisseurin, die in gewagten erzählerischen Ellipsen stets auf die Mithilfe des Betrachters vertraut, der das Weggelassene und Übersprungene kreativ „hinzudenken“ soll. Erst dann nämlich schwingt „fühlbar“ auf mehrschichtigen Metaebenen das Unterschwellige, Unausgesprochene, Verdrängte und „Unter dem Tisch Gehaltene“ mit, das die Menschen in ihrer Ziel- und Orientierungslosigkeit umtreibt – und das sie in ihrer urbanen Modernität mit den archaischen Charakteren Anton Tschechows verbindet.

Den gewagtesten gedanklichen Sprung bewahrt sich die Regisseurin fürs Ende auf, wenn Sophies Rückkehr nach Marseille von der leeren Bahnhofstreppe unmittelbar zu einem Verhör auf einer Polizeiwache führt. Zwischenzeitlich wurde Sophie ausgeraubt, wurde ihr Leben bedroht – quasi eine in der Rückschau indirekt erfolgende Verdichtung ihrer gesamten Lebenssituation zwischen stillem Glück und Katastrophe. Danach verschwindet Sophie in Marseille, und man meint, sie irgendwo in der Ferne noch in ihrem gelben Kleid am abendlichen Meer spazieren zu sehen. Vielleicht ist dies aber nur ein Nachhall auf der Netzhaut oder auch auf der Seele, die von der beherrschten und zugleich poetischen Erzählweise des Films mehr bereichert wird als von manchem „schnell“ erzählten Film.

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