Aus Liebe zum Volk

Dokumentarfilm | Deutschland/Frankreich 2003 | 93 Minuten

Regie: Eyal Sivan

Die protokollierten Aussagen eines pensionierten Stasi-Offiziers, längst vertraute Bilder aus dem DDR-Alltag und bisher kaum ausgewertetes Material aus der Berliner Birthler-Behörde, verdichten sich durch eine ungewöhnliche Montage zum Bild eines paranoiden Überwachungsstaates und gewähren Einblicke in das Psychogramm eines Mannes, der das ideologische und berufliche Misstrauen verinnerlicht und auf alle Lebensbereiche ausgedehnt hat. Durch die literarische Überhöhung der aus dem Off eingesprochenen Lebensbeichte erweist sich der Dokumentarfilm als Fallstudie über institutionalisierten Sicherheits- und Verfolgungswahn, wie er in jedem totalitären Regime anzutreffen ist. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
POUR L'AMOUR DE PEUPLE
Produktionsland
Deutschland/Frankreich
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
zero film/SRCAPIX/rbb/CNC
Regie
Eyal Sivan · Audrey Marion
Buch
Eyal Sirvan · Audrey Marion · Aurélie Tyszblat
Kamera
Peter Badel
Musik
Christian Steyer · Nicolas Becker
Schnitt
Audrey Marion
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Am Ende eines langen Arbeitslebens stehen sterile Büromöbel aus hellbraunen Pressspanplatten, verkümmerte Topfpflanzen, Erinnerungsfotos, Auszeichnungen und Uniformen. Es ist jedoch kein Abschied in den gewollten Ruhestand, kein zufriedenes Zurücklehnen nach Jahren harter Arbeit – im Gegenteil: Der Mann hat seine Arbeit geliebt, doch nun wird seine Firma aufgelöst. Richtig begreifen kann er das nicht, hat er doch sein ganzes Leben lang aus Überzeugung gearbeitet; als Offizier beim Staatssicherheitsdienst der DDR.

„Aus Liebe zum Volk“ ist nach „Ein Spezialist“ (fd 33 936) der zweite Film des in Frankreich lebenden Israelis Eyal Sivan und der Französin Audrey Maurion. Er basiert auf den Erinnerungen eines ehemaligen Stasi-Majors, protokolliert während der Auflösung des DDR-Geheimdienstes vom Autor Reinhardt O. Hahn im Februar 1990. Mit vielen weitgehend unbekannten Archivbildern aus der ehemaligen DDR erzählt der Film die Geschichte des ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaates: In seiner Lebensbeichte rechtfertigt der scheidende Führungsoffizier die staatliche Überwachung aller privaten und öffentlichen Lebensbereiche aus Liebe zum Sozialismus, aus Liebe zum System, aus Liebe zum Menschen und zum Volk, wobei das Volk Gegenstand der Hassliebe der Sicherheitsbürokraten ist – undurchschaubar, latent gefährlich, immer die Gefahr der Zersetzung und Konspiration in sich tragend. Lakonisch spricht der Stasi-Offizier aus dem Off von seiner Kindheit, dem Militärdienst, der kommunistischen Überzeugung und seiner langsamen Integration in den Geheimdienst, bis hin zur absoluten Identifikation mit seiner Arbeit, die über alle persönlichen Bindungen hinausging und das Misstrauen auch auf alle nahestehenden Personen im Freundesund Familienkreis übertrug. Der Schauspieler Axel Prahl vermittelt über die Off-Stimme die Hybris eines Charakters, der bereits um den Untergang des Systems weiß, ihm aber nur ohnmächtig zuschauen kann. Ein System, an dessen Berechtigung er bis zum Schluss glauben will, weil ihm Kontrolle jenseits aller ideologischen Inhalte längst zur Lebensmaxime geworden ist.

„Aus Liebe zum Volk“ beginnt am Ende einer langen Entwicklung, in dem Moment, als das „Schwert der Arbeiterklasse“ nach 40 Jahren zerbrochen und die Auflösung des Ministeriums beschlossene Sache war. Akten werden noch schnell vernichtet, die Büros sind schon verlassen; Opportunismus macht sich breit, sinniert die Stimme im Hintergrund. Der Werdegang des Protagonisten wird mit bitterer Komik transparent gemacht, mit Archivmaterial, das Bekanntes zeigt, Bilder aus den Frühzeiten der DDR, von den offiziellen Feierlichkeiten des sozialistischen Alltags bis hin zum Gorbatschow- Besuch anlässlich des 40. und letzten Geburtstages der DDR, auch die Bilder des Zusammenbruchs, wenn ein den Boden unter den Füssen verlierender Erich Mielke in der Volkskammer ausruft: „Was wollt Ihr denn? Ich liebe Euch doch alle!“. Besonders beeindruckt das unbekannte Material aus den bisher kaum ausgewerteten Filmarchiven der Berliner Birthler-Behörde: Schulungsfilme, Videomitschnitte von Verhören, Fundstücke aus mehr oder weniger zufälliger Überwachung. In einer ungewöhnlichen Montage von Ton und Bild entsteht so das Kaleidoskop einer Überwachungsgesellschaft: die wechselseitige Abhängigkeit von Überwachern und Überwachten, das Zusammenspiel von Tätern und Opfern, die Rechtfertigungen und die Ausflüchte der Opfer ebenso wie die erschreckende, teils auch komische Banalität des Stasi-Alltags. Die Filmemacher greifen zwar das altbekannte, filmisch wie journalistisch vielfach behandelte Thema der Stasi-Krake auf, doch durch die Verbindung der persönlichen, wenn auch literarisch überhöhten Lebensbeichte aus dem Off mit den Archivbildern entsteht das Psychogramm einer institutionalisierten Paranoia, die in dieser oder ähnlicher Form auch losgelöst vom real existierenden Sozialismus existieren könnte. „Aus Liebe zum Volk“ entschlüsselt die Psychologie des hoch motivierten Polizisten, zeigt die Philosophie des Überwachungsstaates, derzufolge es Sicherheit nur durch totale Kontrolle geben kann; eine Ideologie, die keiner konkreten politischen oder sozialen Rahmenbedingungen bedarf.

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