Mein Bruder der Vampir

- | Deutschland 2001 | 93 (DVD Director's Cut: 92) Minuten

Regie: Sven Taddicken

Drei sehr unterschiedliche Geschwister durchleben in einer poetisch-grotesken Fantasie die Wirren und Sorgen von Pubertät und aufkeimender Sexualität, wobei die seltsame Familie zur Keimzelle "ungehöriger" Auf- und Ausbrüche wird. Eine 14-Jährige, ihr geistig behinderter Bruder, der unmittelbar vor seinem 30. Geburtstag steht, und ihr "Normalo"-Bruder treiben sich gegenseitig durch turbulente Liebesverwicklungen, wobei sich der hervorragend gespielte Film zur verspielt-einfallsreichen Kino-Utopie verdichtet. Themen wie Behinderung und Sexualität werden dabei unverkrampft angegangen; die stringente Dramaturgie steigert das Geschehen zu einer teils überdrehten, stets aber zum Nachdenken anregenden Hymne auf die Liebe und das Leben. - Sehenswert.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Gambit Film- und Fernsehprod./team Worx/SWR/BR
Regie
Sven Taddicken
Buch
Matthias Pacht
Kamera
Daniela Knapp
Musik
Putte
Schnitt
Jens Klüber
Darsteller
Roman Knizka (Josch Klauser) · Marie-Luise Schramm (Nic Klauser) · Hinnerk Schönemann (Mike Klauser) · Julia Jentsch (Nadine) · Alexander Scheer (Manu)
Länge
93 (DVD Director's Cut: 92) Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
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Heimkino

Die DVD enthält den Film mit einem modifizierten Ende, das seinerzeit vom Regisseur präferiert, aber von diversen Auslandsvertrieben des Films abgeschmettert wurde. Mit dem nun wieder eingefügten Schluss, wirkt der Film bezüglich einiger aufgeworfener Konflikte noch runder. Die Extras umfassen u.a. Taddickens Kurzfilm "El Cordobes", einen Audiokommentar von Regisseur Sven Taddicken, Drehbuchautor Matthias Pacht und den Darstellern Roman Knizka und Hinnerk Schönemann sowie den Filmschluß der Kinofassung mit optionalem Kommentar von Regisseur und Drehbuchautor. Die DVD ist mit dem Silberling 2011 ausgezeichnet.

Verleih DVD
Kinowelt (16:9, 1.78:1, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Wer angesichts des Filmtitels einen Horrorfilm um blutrünstige Wesen erwartet, wird enttäuscht: Im Mittelpunkt stehen drei Geschwister zwischen 14 und 29 Jahren, darunter ein geistig Behinderter, auf der Suche nach ihren ersten Erfahrungen mit Liebe und Sexualität. Enttäuscht werden aber auch jene, die einen „klassischen“ Problemfilm erwarten, trägt doch der Debütfilm von Sven Taddicken (geb. 1974) eher tragikomische und utopische Züge. Das fängt schon damit an, dass sich Josch, der Behinderte, der bald 30 wird, einen „Geburtstagsadventskalender“ gebastelt hat. Seine 14-jährige Schwester Nic(ole) findet das witzig, ebenso wie Joschs liebste Verkleidung: ein rotes Hemd, einen schwarzen Umhang und große weiße Vampirzähne aus Plastik. In diesem überdrehten Aufzug fällt auch Joschs Behinderung nicht auf, seine manchmal etwas seltsamen Bewegungen und schwer verständlichen Worte passen zur Rolle, in der er sich nicht als Außenseiter fühlt. Mike aber, sein 25-jähriger Bruder, ist entsetzt und versucht, Josch seine Vampir-Manie und damit seine einzige Freude auszureden. Nicht nur angesichts der Mutter, die es nicht schafft, auf ihre Kinder einzugehen, fühlt sich Mike als väterlicher Bruder für seine Geschwister verantwortlich; dabei steckt er selbst noch in der Pubertät und ist in der Beziehung zu Nadine, seiner ersten Freundin, alles andere als sicher und bedingungslos glücklich. Richtig geschockt ist er, als er erfährt, dass sich Josch in Nadine verliebt hat, nachdem er sie vom Dach aus beim Sex beobachtet hat. Fröhlich-unbekümmert, wie es seine Art ist, verkündet Josch im trauten Familienkreis und im Beisein von Nadine, dass er gerne mit ihr an seinem Geburtstag Sex hätte. Mike wird eifersüchtig und ergreift Gegenmaßnahmen; er will Josch ablenken, indem er ihm eine Einführung in die Selbstbefriedigung gibt, was für einige Komik sorgt, aber nicht dazu geeignet ist, Josch von Nadine abzubringen. Dabei ist Nadine gar nicht abgeneigt, Joschs sehnlichsten Wunsch zu erfüllen, und damit Josch nicht auf die Idee kommt, sich ihr zu nähern, bringt ihn Mike zu einer Prostituierten im Wohnmobil (das gab es schon „Uneasy Rider“ von Jean-Pierre Sinapi, fd 34 770), die ihn aber hinauswirft, als sie merkt, wie es um ihn bestellt ist. Zu allem Überfluss bekommt Mike noch Ärger mit ihrem Zuhälter, wird übel zugerichtet und kann nur dank Nics Hilfe entkommen. Auch Nic will endlich Sex, und auch ihr hat es jemand angetan, der für sie unerreichbar scheint: Manu, der ebenso hübsche wie arrogante Chef einer Halbstarken-Gang, der es gerade mal schafft, Kindern in der Standrand-Siedlung ihr Taschengeld abzunehmen, und Nic nicht beachtet. Doch Nic weiß, was sie will; aber die Sache mit Manu geht dann anders aus als geplant, zumal er Nics Manie – sie hat fast ständig eine Digitalkamera bei sich und will auch ihr „erstes Mal“ aufnehmen – irgendwann über hat. In den letzten zwei bis drei Jahren sind Filme über junge Leute und ihre ersten sexuellen Erfahrungen zum Thema deutscher Nachwuchsfilmer schlechthin geworden. Was „Mein Bruder der Vampir“ zu etwas Besonderem macht, ist vor allem die fantasievolle Figurenkonstellation: der naive, ehrliche Josch, die selbstsichere Nic, die gutmütige Nadine und der unsichere, verantwortungsvolle Mike. Dabei ist sich nicht jeder sich selbst der Nächste: Die Geschwister kommen sich über ihre im Grunde sehr ähnlichen Wünsche und Probleme immer näher – sogar bis zum Extrem, zum Inzest, aber selbst das wirkt hier weder aufgesetzt noch „skandalös“, ist eher die Konsequenz einer selten großen Vertrautheit und des Verständnisses für den anderen. So wachsen die Geschwister, bedingt durch ihre Enttäuschungen, zu einer wahren kleinen Familie zusammen und machen einander Mut für die Zukunft. Die direkte Sprache, die phasenweise sehr stimmungsvollen Bilder und die immer ein bisschen irreal und wild aussehende Wirklichkeit lassen manche Schwächen im Detail der verschachtelt entwickelten Geschichte vergessen. Der größte Glückfall sind die beiden jungen Hauptdarsteller: Roman Knizka spielt den behinderten, leicht freakigen Endzwanziger mit einer Mischung aus Unbekümmertheit, Melancholie und Natürlichkeit, die einen ganz eigenen Reiz jenseits von Mitleid entfaltet. Den Kontrast dazu bildet Marie Luise Schramm als Nic, die immer wieder durchscheinen lässt, dass sich hinter ihrer selbstsicheren, berechnenden Schale ein weicher Kern verbirgt (Darstellerpreis beim Filmfestival Max-Ophüls-Preis 2002). Dass jeder an diesem keineswegs lieblichen, mutig anecken wollenden Nachwuchsfilm einen anderen Teil gut finden kann, zeigen die Festivalpreise, die „Mein Bruder der Vampir“ schon bekommen hat: einmal bester Film und beste Regie (Valenciennes), einmal Drehbuchpreis (Schwerin), zweimal Kamerapreis (Brooklyn, Hof), einmal Kritikerpreis (Rotterdam), einmal Publikumspreis (Saarbrücken
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