Letzter Teil einer Hölderlin-Trilogie, der sich mit dem Zusammenbruch des Dichters, seiner Internierung in Tübingen und seinen letzten 30 Lebensjahren als Pflegefall befasst. Ruhig inszeniert, zeigt der Film in erlesener Schwarz-Weiß-Fotografie eine Reihe großartig gespielter Alltagsepisoden, denen die Gedichte Hölderlins zugrunde liegen. Unterbrochen wird die Handlung durch (farbige) Interviews mit Zeitzeugen. Der Regisseur liefert reizvolle Deutungsangebote, wobei er den Dichter und seine Texte nahe bringt, ohne sich aufzudrängen.
Scardanelli
- | Deutschland 2000 | 112 Minuten
Regie: Harald Bergmann
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2000
- Produktionsfirma
- Harald Bergmann Prod./SWR/WDR
- Regie
- Harald Bergmann
- Buch
- Harald Bergmann
- Kamera
- Rolf Coulanges · Matthias Maaß
- Musik
- Franz Schubert · Wolfgang Amadeus Mozart · Johann Sebastian Bach
- Schnitt
- Juliane Lorenz · Harald Bergmann
- Darsteller
- André Wilms (Scardanelli) · Udo Kroschwald (Ernst Zimmer) · Geno Lechner (Lotte Zimmer) · Baki Davrak (Waiblinger) · Jürgen Lehmann (Schwab)
- Länge
- 112 Minuten
- Kinostart
- -
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Im Jahr 1802, ein Beginn wie einst bei Werner Herzog: Eine schwarz gekleidete Gestalt durchwandert alpine Landschaften und posiert vor erhabenen Panoramen, die an Gemälde von Caspar David Friedrich erinnern. Friedrich Hölderlin befindet sich auf dem Heimweg von Bordeaux nach Stuttgart. Ein zweiter Wanderer gesellt sich hinzu, an einem Fluss schlägt er ihn mit einem Felsbrocken nieder und raubt ihn aus. Man wird diese Szene später noch einmal sehen. 1843, bei der Obduktion des toten Dichters, wird festgestellt werden, dass das eigentlich gesunde Gehirn nur an einer Stelle eine Verletzung aufweist. Eine Folge des Überfalls? „Scardanelli“, der dritte und abschließende Teil von Harald Bergmanns experimenteller Hölderlin-Trilogie – nach „Lyrische Suite/Das untergehende Vaterland“ (1992) und „Hölderlin Comics“ (1994) –, gibt hierauf (natürlich!) keine Antwort. Er macht vielmehr das Angebot, sich ein weiteres Mal angesichts der überlieferten Texte des Autors Hölderlin Fragen zu stellen.
Nach seinem Zusammenbruch und der Internierung in der Tübinger Klinik von Doktor Authenrieth wird Friedrich Hölderlin 1807 dem Tischlermeister Ernst Zimmer zur Pflege anvertraut. Seine Lebenserwartung wird mit drei Jahren beziffert; 36 Jahre später, fünf Jahre nach Zimmers Tod, stirbt Hölderlin in Tübingen. „Hölderlins Verfassung ändert sich bis (...) 1843 kaum; Klavierspiel und Spaziergänge bleiben die Lieblingsbeschäftigungen des Kranken; es entstehen noch zahlreiche Gedichte. Hölderlin hat in den Jahren der Krankheit viele Besucher“, heißt es bei Karl-Gert Kribben („Hölderlin“, Werke in zwei Bänden, Hanser 1978). Damit wäre auch der Inhalt des Films hinreichend beschrieben. Hölderlin, der seine Gedichte von nun an mit „Scardanelli“ signieren wird (nur die Briefe an die Mutter unterzeichnet er weiterhin, unter Qualen, mit Hölderlin), lebt dahin, geht spazieren, pflückt Blumen, verbeugt sich vor den Hunden auf der Straße, empfängt Besucher und entzieht sich ihnen, scheint mitunter zu simulieren, spielt Stunden lang Klavier, schleicht im Haus umher, zeichnet, verfasst rätselhafte Gedichte. Im Gegensatz zum nervösen und experimentellen zweiten Teil der Trilogie, der die Drift in den Wahnsinn mit der Musik von John Zorns „Naked City“ unterlegte, herrscht im dritten Teil ein ruhiges Gleichmaß. Offenkundig hat Bergmann seinen Blick auf die zweite Hälfte des Lebens Hölderlins von einem Diktum Robert Walsers leiten lassen: „Ich bin überzeugt, daß Hölderlin die letzten dreißig Jahre seines Lebens gar nicht so unglücklich war, wie es die Literaturprofessoren ausmalen. In einem bescheidenen Winkel dahinträumen zu können, ohne beständig Ansprüche erfüllen zu müssen, ist bestimmt kein Martyrium. Die Leute machen nur eins draus.“
Bergmann macht keins draus, aber er verharmlost die Krankheit auch nicht, frönt keiner genialischen Verklärung des Wahnsinns. In erlesener Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt er eine Reihe stilisierter, großartig gespielter Alltagsepisoden, animiert Zeichnungen, die die von Walter Schmidinger rezitierten späten Gedichte (vielleicht) illustrieren. Zwischengeschnitten sind Interviews mit Zeitgenossen, die ihre Beobachtungen und Einschätzungen des Falls – eine merkwürdige Mischung aus Liebe, Respekt und bornierter Ratlosigkeit – in „schönstem“ Schwäbisch zum Besten geben: in Farbe und vor aktuellem Ambiente. „Alle Szenen, Dialoge und Zeugenaussagen beruhen auf den überlieferten Berichten“, heißt es auf einem Pressezettel. So, wie der zweite Teil der Trilogie vorzüglich durch die Präsentation der Editionsarbeit an den Handschriften Hölderlins (durch den Verlag Strömfeld/Roter Stern) faszinierte, nimmt hier die visuelle Präsentation der späten Gedichte gefangen. Bergmann montiert Deutungsangebote dieser rätselhaften, oft rätselhaft einfältigen Texte, bringt sie und den Autor nahe, ohne aufdringlich zu sein. Besseres lässt sich über einen Filmessay zu Leben und Werk Hölderlins wohl nicht sagen.
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