Exil Shanghai

- | Deutschland/Israel 1997 | 275 Minuten

Regie: Ulrike Ottinger

Dokumentarfilm, in dem sechs Zeitzeugen deutscher, österreichischer oder russischer Herkunft von der jüdischen Emigration nach Shanghai in den 30er und 40er Jahren berichten, von familiären Traditionen, der Vielfalt des kulturellen Lebens, von Zusammenhalt und gegenseitiger Unterstützung bis hin zur erneuten Emigration nach Kalifornien. Ganz auf die erkenntnisreichen Erzählungen konzentriert, verwendet der überlange Film nur sparsam Archivmaterial und sucht mit der Kamera im heutigen Shanghai die Spuren von damals, wobei sich die Gegenwart von der Vergangenheit ablöst. Er entfaltet eine faszinierende Sogwirkung und ist als Zeitdokument von hohem Wert, stößt freilich da an Grenzen, wo er nur an der Oberfläche der Erscheinungen bleibt und die Erzählungen der Protagonisten unbearbeitet läßt. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Israel
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Ulrike Ottinger Filmprod./Transfax
Regie
Ulrike Ottinger
Buch
Ulrike Ottinger
Kamera
Ulrike Ottinger
Länge
275 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
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Diskussion
Sechs Menschen erzählen eine und doch sechs Geschichten. Sie handeln alle von der jüdischen Emigration nach Shanghai, von familiären Traditionen und neuen Geschäften, von der Vielfalt des kulturellen Lebens, von Zusammenhalt und gegenseitiger Unterstützung bis hin zur erneuten Emigration. Diesen Geschichten aus der Vergangenheit fügt Ulrike Ottinger gleichsam als siebte die ihrer eigenen Begegnung mit dem Shanghai der Gegenwart hinzu. So wie sich der Trieb durch Befriedigung nicht erschöpft, sondern immer wieder neu entsteht, so lebt auch ihr Film aus der Spannung von Wiederholung und Differenz. Immer wieder hört man dieselben Fakten, aber sie klingen immer wieder etwas anders. Eine Art Erzählgerüst bildet die politische Geschichte der Stadt, die relativ problemlos Exil bot, weil sie selbst sich nie ganz besaß. Ohne daß China im klassischen Sinn Kolonie gewesen wäre, teilten sich die Kolonialmächte Shanghai: Amerikaner, Briten und Franzosen verfügten über eigene Bezirke, in denen sogar das Recht der Mutterländer galt. So hatten die Emigranten die moderne Welt an einem Ort, lernten schnell verschiedene Sprachen und zogen ihren Nutzen aus der internationalen Nachbarschaft. Für die bewegte chinesische Geschichte und Politik interessierten sie sich weniger.

Im Gegenteil: Je länger die Emigration ihrer Familien zurückliegt, um so ungebrochener stellt sich das Verhältnis der Protagonisten zu den Chinesen als Kolonialverhältnis dar. Chinesische Schneider, so erfährt man, waren von schneller Auffassungsgabe und nähten nach mündlicher Schilderung europäische Haute couture. Auch die Köche stellten sich problemlos auf die fremden Eßgewohnheiten ein. Die Lage änderte sich mit dem chinesisch-japanischen Krieg. Als die Japaner ab 1941 Shanghai regierten, kasernierten sie die Deutschen und Österreicher im armen Stadtteil Hongkew. Deren Verhältnis zu den Chinesen stellt sich entsprechend anders dar.

Nach der Deklaration der kommunistischen Volksrepublik wanderten die Geschichtenerzähler mit ihren Familien nach Amerika aus. Heute leben sie alle in Kalifornien, wo Ulrike Ottinger mit ihnen gesprochen hat. Sie sind gut vorbereitet, haben die Fotos und Erinnerungsstücke herausgesucht und für die Kamera griffbereit. Jetzt führen sie eloquent die Ergebnisse ihrer Erinnerung vor, und die Kolonialgeschichte wird überlagert von der Erfolgsgeschichte der früh Ausgewanderten und der Leidensgeschichte der später Verfolgten. Die Perspektive heißt jüdische Diaspora. Das Wort bleibt bei den Protagonisten, Chinesen wurden bis auf eine (mißlungene) Ausnahme nicht gefragt. Während die Erzähler sprechen, erkundet Ulrike Ottinger mit ihrer Kamera die Stadt. Mit zahllosen Schwenks versucht sie, die Dauer und Beweglichkeit eines menschlichen Blicks zu imitieren, der zugleich ihr eigener wie der vergangene ihrer Protagonisten sein kann. Immer wieder tastet die Kamera Häuserzeilen, Schiffe, Brücken und Passanten ab. In diese Gegenwart Shanghais legen die Worte der Erzähler die Vergangenheit wie eine Spur. Oft verdichtet sie sich, wenn Ottinger Fotos ihrer Protagonisten zeigt, Untertitel die im Wort benannten Gebäude herausheben, der Blick immer wieder vom Schiff aus auf die Skyline fällt, und vor allem, wenn die Musik ertönt, alte Schlager aus den 20er und 30er Jahren, die die Ansichten nostalgisch färben. Manchmal, wenn Ottinger ihrer eigenen Neugier frönt, löst sich die Gegenwart von der Vergangenheit ab. In abgeschlossenen Sequenzen sieht man die Arbeit in einer Apotheke, die kunstvolle Zubereitung einer Nudelsuppe oder das Treiben in einem Hochzeitsstudio, in dem die Paare für das Erinnerungsbild posieren.

Wie schon in in ihrem Film "China - die Künste - der Alltag" (1985) bleibt ihr Blick stets an der Oberfläche der Erscheinungen. Ihr Interesse an den alltäglichen Inszenierungen des Sozialen richtet sich auf deren visuellen Aspekt. Einerseits respektiert das Verfahren die eigene Fremdheit und entgeht dem Herrschaftsakt der Benennung, andererseits schleicht sich das Benennen und die Einvernahme dadurch wieder ein, daß der historische Widersinn, der verfolgte und emigrierte Juden plötzlich zu Mittätern kolonialer Unterdrückung macht, in den Erzählungen der Protagonisten zwar benannt, filmisch aber unbearbeitet bleibt. An mancher Stelle "passiert" es dem Film, daß er sich in eine Perspektive kolonialer Herrschaft stellt, die mit der Perspektive seiner Protagonisten nicht unbedingt identisch ist. Wenn sich Chinesen bei der Gymnastik plötzlich im Rhythmus eines alten Schlagers bewegen, lächelt man noch, weil Musik und Bewegung so unvermutet zueinander passen. Wenn Enten und Kinder das chinesische Landleben plötzlich in die visuelle Schablone einer europäischen Postkartenidylle pressen, verbucht man diese Bilder einfach als nicht ganz geglückt. Wenn Ulrike Ottinger aber ihrer einzigen chinesischen Zeugin das Wort nimmt, fragt man sich ernsthaft, wie so etwas passieren kann. Die Chinesin erzählt von ihrem Vater, der sich mit einem Emigranten befreundet glaubte, von diesem aber ohne ein Wort des Abschieds verlassen wurde. Während die Frau noch spricht, überlagert Ottinger ihre Stimme mit Musik und zeigt unvermittelt nicht mehr sie, sondern ein jüdisches Bad. Als sei es nicht schon problematisch genug, sechs Protagonisten, die genügend Zeit und Raum für ihre Erzählungen haben, nur wenige Minuten lang eine chinesische Perspektive beizugeben, wird diese so beschnitten, als wolle der Film an ihr wiederholen, wovon sie spricht. Gerade weil sie in der Anordnung ihrer Protagonisten sorgfältig darauf geachtet hat, daß der Nachdenklichste am Ende steht, hätte Ottinger auf ihre einzige chinesische Stimme verzichten sollen.
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