Nacht ohne Ende - Hors la Vie

Politthriller | Frankreich/Italien/Belgien 1991 | 97 Minuten

Regie: Maroun Bagdadi

Ein französischer Fotojournalist wird im Libanon von einer der kriegsführenden Parteien verschleppt und in monatelanger Isolationshaft als Geisel gefangengehalten. Ein ungewöhnlicher Polit-Thriller, der die wechselnden emotionalen Bindungen aller Beteiligten untereinander ebenso beschreibt wie die Zerrissenheit eines Landes, das von einem Krieg verwüstet wird. Der Film erschließt sich in seiner Gesamtheit aus (räumlichen) Details und fragmentarischen Bildausschnitten und thematisiert zugleich die Fragen von Wirklichkeitswahrnehmung und -abbildung. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
HORS LA VIE
Produktionsland
Frankreich/Italien/Belgien
Produktionsjahr
1991
Produktionsfirma
Galatée/A2/Filmalpha/Lamy
Regie
Maroun Bagdadi
Buch
Maroun Bagdadi
Kamera
Patrick Blossier
Musik
Nicola Piovani
Schnitt
Luc Barnier
Darsteller
Hippolyte Girardot (Patrick) · Rafic Ali Achmad (Walid) · Hussein Sbeity (Omar) · Habib Hammoud (Ali/"Philippe") · Magdi Machmouchi (Moustapha)
Länge
97 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Politthriller | Literaturverfilmung
Externe Links
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Diskussion
Patrick Perrault, jung, ehrgeizig, Fotojournalist, lebt und arbeitet in Beirut, Libanon. Er ist immer vorne mit dabei, wenn die Armee kämpft - egal welche; aber wohl nicht mehr lange, trägt er doch ein Flugticket nach Paris mit sich herum. Für die moslemischen Truppen verkehrt er viel zu viel mit den Botschaftsangehörigen. Sie entführen ihn. Für Entführten und Entführer beginnt die Zeit der Angst und der Ungewißheit, die Zeit des Wartens, die Zeit des Kennenlernens, soweit das in dieser Situation möglich ist.

Der Originaltitel "Hors 1a vie" bezeichnet die Ästhetik wie die Moral des Films. "Außerhalb des Lebens", das bezeichnet nicht nur die im Film beschriebene Situation, es ist die Situation aller, die im Krieg sind. Da der Krieg aber von Menschen geführt wird, für die das Leben das Normale sein sollte, kann er nur ein Ausnahmezustand sein. Doch der Krieg im Libanon dauert schon lange, wie wohl alle Kriege aus ideologischen Gründen. Aber was ist das "Normale" im Krieg, und was ist mit denen, die den Frieden vergessen haben? Wie z.B. Ahmed, der völlig durchgedrehte Bewacher von Perrault. Er hat seit Beginn des Krieges vor fast 17 Jahren auf so ziemlich jeder Seite einmal mitgekämpft. Perrault nennt ihn Frankenstein - das künstlich aus Leichenteilen geschaffene Wesen, ein bemitleidenswertes Geschöpf, das nichts für seine Existenz kann. Oder schauspielert Ahmed nur? Ist er der Böse bei den Verhören, das Pendant zu Ali? Am Ende ist Ahmed tot. Todesanzeigen werden an die Hauswände geklebt. Man hat sich an ihn als den Bösen gewöhnt; doch im Leben wie in der Politik, ist nichts so einfach wie es scheint. Eine Symmetrie scheint zerstört, Perrault wird freigelassen. Wer war Ahmed, wer Perrault?

Nichts ist sicher, man kann alles nur ahnen: denn alles, was man sieht, sind Ausschnitte. Die Entführung ist nur ein Teil des Lebens aller Beteiligten, eine flüchtige Begegnung. Wie flüchtig, wie winzig, zeigt sich in jener Szene, wo Perrault das einzige Mal einen anderen Gefangenen trifft: Ein weiteres Schicksal, und doch ganz anders. Der andere ist ein Araber, der seine Augenbinde nicht mehr zu tragen braucht, weil man ihn ohnehin demnächst töten wird. Maroun Bagdadi inszeniert nur Splitter und Details, die sich zu einer Geschichte formieren. Das bedeutet jedoch nicht, daß er konsequent nur die Perspektive Perraults einnähme; in einigen Szenen sieht man Dinge, die Perrault weder sehen noch wissen kann. Etwa wie der Laster, in dessen hohlen Boden Perrault liegt, eine Demarkationslinie überquert. Die Fähnchen dort deuten an, daß sie sich nun auf syrischem Boden befinden; die Entführer sind offensichtlich moslemische Soldaten, die von syrischem Gebiet aus operieren. So kann man zumindest erahnen, wie die politische Front verläuft. In einer anderen Szene sieht man einen Mann auf einem Friedhof beten; Ahmed anscheinend, kurz nachdem er einmal mehr Perrault angegriffen hat. Die Szene irritiert, doch im Verbund mit anderen verdeutlicht sie: Der Film ist die Arbeit eines Dritten. So hebt Bagdadi den Anschein von Realismus auf, befördert den Film auf die Ebene der Parabel. Es geht nicht nur um Perrault und Ahmed und Ali, es geht um den Krieg und um die Wahrnehmung des Krieges.

Perrault als Fotograf liefert Ausschnitte des Krieges, durch Bewußtsein vorgefiltert: In einer der ersten Szenen fotografiert er (feindliche) Soldaten, die triumphierend neben einer aufgehängten Leiche posieren; er soll ihrer Wahrheit mit seinen Bildern Öffentlichkeit verschaffen. Als die Gefahr gebannt ist, vernichtet Perrault den Film. Man wird niemals die ganze Wahrheit sehen, was auch immer das sein mag. Am Leben erhält Perrault ein Foto der Frau, die er liebt. Ihr Abbild wird für ihn zur Realität. Als man das Foto zerreißt, ist sein Leben zerstört. Und schließlich wollen seine Entführer den üblichen Film mit einer Botschaft des Opfers produzieren. Perrault verliest seinen Text anfangs ordnungsgemäß, da überkommt es ihn, er bricht plötzlich in Tränen aus, schreit seiner Isabelle zu, daß er sie liebt, bannt in Sekunden all sein Leben auf ein Stück Magnetband - da ist diese Videokamera kaputt. Eigentlich existiert diese Aufzeichnung also gar nicht, nicht für die Öffentlichkeit. Aber der Zuschauer hat es gesehen, Bagdadi und seine mise en scene macht sich bemerkbar. Am Ende schließlich, als Perrault wieder frei ist, wird er bei seiner Ankunft im Hotel von Journalisten belagert, seinen Kollegen: Er existiert wieder im Gedächtnis der Öffentlichkeit, was er von nun an erzählt, wird die Wahrheit sein über die Zeit, die der Film abdeckt. Wie wird die offizielle Wahrheit aussehen?

Das Gesehene und das Ungesehene, das Existierende und das Nicht-Existierende. Bagdadi treibt diese Teil-Inszenierung bis ins kleinste Detail: ein System von Schwarzblenden und harten Schnitten akzentuiert den Detailcharakter; häufig wird der Raum auch nur in Details wahrgenommen; aus einer Winzigkeit im Raum. Man hat nie die Übersicht. Diese Details wiederum formen den Film. Bagdadi selbst unterläuft in der letzten Szene den Detailcharakter des Films. Perrault sitzt mit seinen Freunden und Isabelle in einem Café, er entschuldigt sich für einen Moment, geht zu einem Telefon und ruft in Beirut an, im Haus, in dem er gefangengehalten wurde und dessen Telefonnummer er in Erfahrung bringen konnte. Die Wohnung ist leer und verwüstet. Dann fährt die Kamera die Straßen von Beirut ab, denn Perrault wird sein ganzes Leben irgendwie in Beirut sein. Diese Szene ist eine Art Code, der "eigentliche" Film hört mit der Freilassung auf.

Bagdadi hat einen politischen Film für ein großes Publikum gemacht, der über sein Ende hinaus in das Leben der Zuschauer ragt. Interessant dabei ist, daß Bagdadi das Politische bis in die Form getrieben hat. Sie widerspricht vom theoretischen Ansatz nicht der ideologischen Linie. Politisch radikale Regisseure wie Straub/Huillet ("Antigone") oder Peter Watkins ("The Journey"), die ihre Ideen in der angemessenen filmischen Form manifestieren, haben so gut wie keine Chance beim Massenpublikum. Bagdadi verkauft keine Ideen, er zeigt einen Ausschnitt Leben. Wenn man aus dem Kino kommt, ist man in gewisser Hinsicht immer noch nicht klüger, man weiß kaum etwas über die Personen, ihre Motive, den Krieg. Man kann auch nicht sagen, wer oder was gut oder schlecht ist. Man weiß danach aber, wie die Medien funktionieren; man ahnt vielleicht sogar, wie das Leben funktioniert. Das einzig Wahre an dem Film ist der Film selbst. Man kann ihn als Ausgangspunkt nehmen; der Rest ist Eigenarbeit. Also ein Film, der den Zuschauer zu einer geistigen Arbeit bringt, die ihn politisch klüger machen kann, ihn in den Genuß einer selbst erarbeiteten Einsicht bringt. Das ist gelungenes Polit-Kino, Kino für denkende Menschen.
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