Eine der furchtbarsten Waffen des Krieges ist die Erinnerung an erlebte Gräuel. Sie kann aber zugleich auch zum wichtigsten Mittel werden, um künftige Kriege zu vermeiden. Doch wie schafft man es, dass die Menschen nicht wegsehen? Der Blog „Komm und sieh – Der Krieg in uns“ stellt wichtige Filme über den Krieg vor, die noch heute den Blick bannen. Welche Motivation hatten die Menschen, die sie drehten? Was macht der Krieg im Film heute mit uns und wie weit dürfen die Filmemacher dabei gehen? Der fünfte Beitrag fokussiert auf die Rolle des Journalismus im dokumentarischen Animationsfilm „Chris the Swiss“ von Anja Kofmel über den ermordeten Kriegsreporter Christian Würtenberg, der im jugoslawischen Bürgerkrieg die Seiten wechselte und zum Kämpfer wurde.
„Wir fühlten uns unbesiegbar. Wir fühlten uns, als ob nichts uns etwas anhaben könnte.“ Der damalige Fernseh-Produzent Siniša Juričić steht auf der obersten Etage des Hotel Intercontinental und blickt auf das wiederaufgebaute Stadtpanorama von Zagreb. Hier in Kroatien begann im Herbst 1991 eine Großoffensive der jugoslawischen Volksarmee. Durch diesen Angriff brachten kroatische Serben etwa ein Drittel von Kroatien unter ihre Kontrolle. Die Auflösung Jugoslawiens in Teilrepubliken und der Kampf um Titos Erbe nach dem Zerfall der kommunistischen Einheitspartei wurden Auslöser für einen blutigen Bürgerkrieg, der bis 1995 mitten in Europa wütete. Am Ende waren es mehr als 100.000 Menschen, die durch die Kämpfe zwischen den drei offiziellen Armeen von Serben, Kroaten und Bosniern und zahlreichen paramilitärischen Einheiten getötet wurden, und mehr als zwei Millionen Menschen, die aus ihrem Land flüchteten.
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Mitten in Zagreb hatte die internationale Presse damals ihre Kameras mit Blick auf den Bombenhagel in der Stadt aufgebaut, um hautnah über den Beginn dieses Kriegs zu berichten, Live-Explosionen inklusive. Einer von ihnen war Christian Würtenberg, ein 25-jähriger Schweizer Journalist, der sich am 6. Oktober 1991 von Zürich aus in den Zug nach Zagreb setzte, um zu einem Krieg quasi vor seiner Haustür zu fahren. Er kehrte daraus nicht mehr zurück. Denn schon einige Monate später schloss sich der Reporter aus mysteriösen Gründen ultrareligiösen Paramilitärs an und wurde ermordet. Seine Leiche trug Söldneruniform, das Gesicht war zerschunden, sein Hals zeugte von einer Erdrosselung. Anja Kofmel, die damals zehn Jahre alt war, verfolgte der Tod ihres geliebten Cousins jahrelang in schlimmen Albträumen, bis sie beschloss, seine Mörder zu finden und daraus einen Film zu machen: „Chris the Swiss“. Ein Film, der die Kamera auch auf die letzten Fotos ihres Cousins im Leichenschauhaus hält.
Wie ist ein Krieg mitten in Europa möglich?
Doch aus der persönlichen Intention erwuchs während der Dreharbeiten eine weitaus größere Dimension, die tief zum Kern vordringt und auch für uns heute unbequem bleibt: Warum ist ein so unmenschlicher Krieg in dieser Zeit überhaupt möglich gewesen? Wer waren seine Treiber? Wie verhielten sich die Medien dazu? Es sind Fragen, die angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine oder seit dem Angriff der Hamas auf Israel heute drängender denn je sind. Die Annäherung an diese Themen sind erschreckend, und doch lassen sie uns die Augen nicht abwenden, ganz im Gegenteil: „Chris the Swiss“ ist ein Hybrid zwischen Animationsfilm, investigativem Journalismus und fesselndem Drama, das besonders in der Schweiz, die sich in außenpolitischen Konflikten gerne als neutral betrachtet, für Aufsehen sorgte.
Das Werk gewann gleich dreifach den Schweizer Filmpreis, für den Besten Dokumentarfilm (Anja Kofmel, Samir und Sereina Gabathuler), für den Besten Schnitt (Stefan Kälin) und für die Beste Musik (Marcel Vaid). Das Züricher Filmfestival zeichnete ihn sowohl als Besten Film wie auch als Besten Dokumentarfilm aus. In Cannes wurde „Chris the Swiss“ im Rahmen der hochkarätigen Reihe „Dealing with the past“ innerhalb der „Woche der Kritik“ prämiert. Nominierungen und weitere Preise folgten auf internationalen Festivals.
Es sind hochästhetische, emotionalisierende Animationen, beklemmendes Found-Footage-Material sowie berührende Interviews mit der Familie, Kolleg:innen und Kampfgenossen, mit denen sich Kofmel auf Spurensuche begibt, um die letzten Monate ihres Cousins, der nur 26 Jahre alt wurde, nachzuzeichnen – und das im wahrsten Sinne. Gelungene Dokumentarfilme laufen dabei oftmals Gefahr, dass ihre filmkünstlerischen Qualitäten zugunsten ihrer Botschaften nicht ausreichend gewürdigt werden. Bei „Chris the Swiss“ kommt man jedoch weder an seiner Kunstfertigkeit noch an seiner Botschaft vorbei. Zehn Jahre brauchte die Regisseurin, um den Film fertigzustellen. Dreieinhalb Jahre dauerte allein der Schnitt von Stefan Kälin.
Das Hauptproblem in der Kombination von Dok- und Animationsfilm, so die Regisseurin in einem Interview, sei gewesen, dass in der Herstellung in beiden Genres vollkommen entgegengesetzt verlaufe: „Beim Dokfilm (…) geht (es) darum, möglichst lange flexibel zu bleiben und aus dem vorhandenen Material die beste Geschichte zu formen. Bei der Animation hingegen ist es genau umgekehrt: Weil die Bildproduktion so aufwändig ist, musst du dich möglichst früh festlegen.“ Diese Herausforderung bedurfte eines kontinuierlichen Austauschs mit dem Animationsstudio in Zagreb, wo Kofmel zwei Jahre lebte, um das Team zu leiten. Grundlage war ihr Abschlussfilm „Chrigi“ (2009), der an der Hochschule Luzern entstanden war und der die Produzent:innen Samir, Sereina Gabthuler, Vanja Cremac sowie die Co-Produzenten Heino Deckert und Siniša Juričić überzeugte, daraus einen abendfüllenden Film zu machen.
Apokalyptische Heuschreckenschwärme
Mit Juričić, der zugleich ein früherer Kollege von Christian Würtenberg im Krieg war, begab sich Anja Kofmel selbst auf den Weg, sprach mit Personen, die ihren Cousin getroffen hatten, sammelte Archivmaterial von den Fernsehberichten, die er an der Front aufgezeichnet hatte, und versuchte, seine Notizhefte zu entschlüsseln. Fehlendes Bildmaterial ergänzte sie durch Schwarz-weiß-Animationen aus Perspektive des jungen Kriegsreporters und ihren eigenen Vorstellungen dazu. Dieser empathische Kunstgriff schafft es, den Fluss aus realen Nachrichtenbildern aus dem Kampfgebiet mit Toten und Verletzten immer dann zu unterbrechen, wenn er droht, abstumpfend und abstrakt zu werden.
Auf Ausschnitte aus Nachrichten und Alltagsbildern der Regisseurin bei ihrer Recherche vor Ort folgen apokalyptische Sequenzen, in denen die tödlichen Luftangriffe plötzlich als surreale schwarze Heuschreckenschwärme lebendig werden, deren metallisches Rasseln sich mit den Schüssen der Heckenschützen verbindet. Wie klingt Krieg? Bei Kofmel geht er durch Mark und Bein. Ihre enge Zusammenarbeit mit den Sound-Departments um Markus Krohn und den Komponisten Marcel Vaid machten dies möglich. „Dirty und rough“ ist ihr Krieg, er summt wie Millionen von Insekten, schwillt an wie tosendes Wasser und klirrt wie tausendfach zerschlagenes Glas.
Auch die Interviews mit den Kriegsjournalist:innen Heidi Rinke oder Julio César Alonso erhalten auf diese Weise emotionale Tiefe, wenn ihre Begegnungen mit Würtenberg auf den damals menschenleeren Straßen in Zagreb, in zwielichtigen Bars und dunklen Ecken in Szene gesetzt werden.
Mit diesem erzählerischen Ansatz gelingt es, dramaturgisch den Bogen von Kofmels surrealen kindlichen Albträumen chronologisch bis ins letzte Jahr ihres Cousins zu spannen, in dem er seine mutmaßlichen Mörder traf: die autonome Söldnertruppe PIV um ihren Anführer „Chico“, bürgerlicher Name Eduardo Rózsa-Flores, der sich als „weißer Che“ betrachtete und selbst früher Journalist war. Diese Einheit kämpfte auf Seiten der Kroaten und beging bei „ethnischen Säuberungen“ Kriegsverbrechen an der Bevölkerung. Aus welchen Beweggründen sich Würtenberg, der bereits als 17-Jähriger eine Ausbildung bei der südafrikanischen Armee absolvierte, einer Gruppe von mutmaßlich rechtsextremen Nationalisten anschloss, kann niemand endgültig beantworten. „Im Krieg“, so einer der Reporter, „da lebt man Tag und Nacht zusammen wie eine Familie.“ War es diese Intensität, die Würtenberg so sehr faszinierte, um aus der friedlichen Schweiz in den Krieg zu fahren und seine eigene Familie traumatisiert zurückzulassen, wie die erschütternden Kommentare seines Vaters, seiner Mutter und seines Bruders vor der Kamera zeigen?
Auf der Jagd nach der besten Geschichte
„Der Krieg hängt vor allem von den Menschen ab, die Waffen an beide Seiten verkaufen, in Europa, der USA, auf der ganzen Welt. (…) Solange dafür ein Interesse und ein Markt da sind, verkaufen sie, außer jemand hält sie auf – aufgrund des Gesetzes oder aus gesundem Menschenverstand“, so das verzweifelte Plädoyer des Kriegsjournalisten Würtenberg vor der Kamera, kurz bevor er untertauchte. „Chris the Swiss“, wie sein Kampfname lautete, ist ein unzuverlässiger Erzähler in diesem Film, mal im Off, mal direkt vor der Kamera: „Der Krieg geht weiter. Es ist nur die Frage, was wir von ihm zeigen.“
Meinte er damit, dass nicht schon längst Blut an ihm und seinen Mitstreitern im Propagandakrieg der Bilder klebte, noch bevor er scheinbar die Seiten wechselte? Ein Buch wollte er schreiben, dessen Manuskript jedoch nie gefunden wurde. War es also in Wirklichkeit eine tödliche Undercover-Geschichte, die ihn antrieb, auf der Jagd nach der besten Geschichte? Veteranen, die an seiner Seite kämpften, reagieren achselzuckend: „Soldaten werden zu Schlächtern ausgebildet, beginnend mit dem Schwächsten.“ Sie verweisen auf Fotos ihres jungen Kameraden, der bei ihnen aufgrund seiner Sprachkenntnisse als Funker diente und die zu Feinden erklärten Serben schließlich auch selbst töten musste.
Die Recherchen waren auch für die Regisseurin nicht ungefährlich und führten sie in ein undurchsichtiges Netz internationaler Drahtzieher. Die erzkatholische Gemeinschaft „Opus Dei“ soll die Einheit PIV finanziert haben. PIV-Anführer „Chico“ Rózsa-Flores wurde 2009 in Bolivien exekutiert, weil er angeblich einen Anschlag auf den bolivianischen Präsidenten Evo Morales geplant haben soll. Nur wenige Jahre zuvor hatte er sich im biografischen Spielfilm „Chico“ (2001) der ungarischen Regisseurin Ibolya Fekete selbst ein Denkmal gesetzt. Endgültige Antworten findet Anja Kofmel jedoch keine.
Vor allem eine Warnung für junge Männer
„Chris the Swiss“ verhandelt damit nicht nur die ambivalente Rolle von Kriegsjournalist:innen. Sondern er zeigt auch, welchen beeindruckenden Beitrag Filmkünstler:innen leisten können, indem sie auch Jahrzehnte nach einem Krieg die Finger in offene Wunden legen, ohne dabei selbst auf Jagd nach der besten Geschichte zu sein. Dieser eindringliche und zugleich behutsame biografische Ansatz scheint vor allem Regisseurinnen zu eigen zu sein. Die Verbindung von realen und animierten Bildern erinnert an die im gleichen Jahr entstandene Kurz-Dokumentation „Tracing Addai“ (2018) von Esther Niemeier, die ästhetisch ganz ähnlich mit animierten Szenen dem Tod eines jungen Mannes nachspürt, der sich mit Anfang Zwanzig radikalisierte, in den syrischen Bürgerkrieg zog und dort unter ungeklärten Umständen ums Leben kam.
Auch wenn es am Ende in den Zeichnungen wirkt, als hätte sich Anja Kofmel aus ihrem Trauma befreit, indem sie ihre eigene Figur als Kind darstellt, das seine Hand dem Cousin zum Abschied reicht, ist ihr Ausblick am Ende des Films ein düsterer – vier Jahre vor Kriegsausbruch in der Ukraine, fünf Jahre vor dem Massaker der Hamas an jungen Israelis: „Noch aus den Nachrichten erfahre ich, dass wieder junge Schweizer Männer in den Krieg ziehen. Jetzt unter einem anderen Namen, unter einer anderen Fahne, für einen anderen Gott. Es braucht nicht viel, um den Teufelskreis von Gewalt und Vergeltung in Gang zu setzen. Eine Handvoll junger Männer, die alles töten, was einer anderen Religion, einer anderen Ideologie oder anderen Hautfarbe angehört. Deine Geschichte hat mich in den Abgrund blicken lassen. Und sie hat mir gezeigt, wie zerbrechlich unsere Gesellschaft ist.“
Es ist diese simple Erkenntnis, die so schwer zu begreifen ist und für die „Chris the Swiss“ die passenden Worte wie Bilder und Sound findet – der Glücksfall eines Films über den Krieg, der vor allem eine Warnung für junge Männer ist und daher zu ihrem Pflichtrepertoire gehören sollte.
Mit Dank an Hermann Ungerer von der VHS Edingen-Neckarhausen für die Initiation des Themas „Der Krieg in uns“ und Alexander Pawlak für die konstruktive Unterstützung bei diesem Blog.
Literatur:
Calic, Marie-Janine: Kleine Geschichte Jugoslawiens. In: APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte 29.09.2017, Bonn https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/256921/kleine-geschichte-jugoslawiens/ (letzter Zugriff 17.3.2023)
o.V./ Arttv.ch – Kulturfernsehen im Netz: Interview Anja Kofmel, Regisseurin von „Chris the Swiss“. 15.12.2018, Zürich https://arttv.ch/film/interview-anja-kofmel-regisseurin-von-chris-the-swiss/ (letzter Zugriff 15.3.2023)