© IMAGO / Everett Collection ("Anselm")

In weiter Ferne, so nah - Wim Wenders, der Künstlerfilm und 3D

Wim Wenders, der Künstlerfilm und die Stereoskopie

Veröffentlicht am
06. November 2023
Diskussion

Mit seinem Film „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ (ab 12.10. im Kino) wirft Filmemacher Wim Wenders einen poetischen Blick auf die Werke und Gedanken seines Freundes Anselm Kiefer. Ein weiterer Film, in dem sich Wenders dem Schaffen eines anderen Künstlers widmet, und zwar in 3D, einer Technik, die mittlerweile schon wieder aus der Mode ist, von Wenders aber einmal mehr kongenial genutzt wird. Ein Anlass, beide Aspekte in Wenders’ Filmografie genauer zu betrachten.


Die wechselvolle Liebesgeschichte des Kinos zur Dritten Dimension erlebt gerade wieder einmal einen Tiefpunkt. Vor einem Jahrzehnt besonders in US-Blockbustern allgegenwärtig, erscheint die Technik im aktuellen Kinobetrieb gerade wieder einmal so entbehrlich wie das Mode-Accessoire vom vorletzten Sommer. Man muss schon danach suchen, aktuelle 3D-Produktionen wie „Elemental“ oder „Spider Man: Across the Spider-Verse“ im intendierten Format zu sehen, und selbst ein so außergewöhnliches 3D-Experiment wie der chinesische Animationsfilm „Deep Sea“ kommt überhaupt nur zweidimensional in deutsche Kinos. Es ist schon ein Jammer: Wie aufwändig war es, farbige 3D-Filme im analogen Zeitalter vorzuführen, wofür entweder zwei parallele Projektoren oder spezielle Polarisationsfilter-Optiken und Silberleinwände nötig waren? Und nun, wo es auf Knopfdruck geht, will kaum noch jemand etwas damit zu tun haben.


Eine besondere Schwelle überwinden

Der Grund ist wohl derselbe wie beim Abebben früherer 3D-Wellen: Die Brille distanziert die Zuschauerinnen und Zuschauer von ihren Platznachbar:innen – und nur wenigen Filmemachern gelingt es wie James Cameron, die Dreidimensionalität als unverzichtbar zu vermitteln. Und Wim Wenders, der dem Format mit seinem Künstlerporträtfilm „Anselm“ treu geblieben ist. Ebenso wie bei seinem ersten 3D-Film „Pina“ vermittelt sich der Mehrwert unmittelbar durch die Weite der Schauplätze. Hier sind es die immensen Hallen, in denen Anselm Kiefer arbeitet und seine Bilder lagert. Und schließlich durch eine Kunst, die sich geradezu definiert durch die Überwindung der Flächigkeit ihrer malerischen Wurzeln. Aber da ist noch etwas, das im 3D-Medium angelegt ist, aber selten verstanden wurde. Es ist eine Sache, wie Hitchcock in „Bei Anruf Mord“ Grace Kelly ins Publikum nach der rettenden Schere greifen zu lassen. Eine andere ist es, das Publikum in Bilder eintreten und dadurch eine besondere Schwelle überwinden zu lassen.


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Schon die ersten Künstlerfilme der Stummfilmzeit zelebrierten Atelierbesuche geradezu als Gunstbeweise kreativer Teilhabe. Wer in das Allerheiligste vorgelassen wird, genießt ein Privileg. Das passte zur Schlüssellochperspektive der frühen Stereofotografie, und wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass wir es beim 3D-Fan Wenders mit einem in der Fotografie ebenso erfolgreichen Künstler zu tun haben. Die Fotografie hat ein selbstverständlicheres Verhältnis zur fotografischen Raumillusion als der Film; Stereofotografie gibt seit dem späten 19. Jahrhundert. Oder, umgekehrt betrachtet: Das Medium Film, das Raumillusion mittels Bewegung (der Kamera und vor der Kamera) erzeugen kann, braucht dazu eigentlich nicht das zweite Auge. Wenders, der sich schon mit seinem Kurzfilm „Die Brüder Skladanowsky“ mit der Neugier des frühen Films beschäftigt hat, nähert sich auch dem stereoskopischen Filmbild mit der scheinbaren Naivität eines „Kinos der Sensationen“. Und genau das ist der Charme von „Anselm“.

Anselm Kiefer und Wim Wenders (© Road Movies, Ruben Wallach/DCM Film)
Anselm Kiefer und Wim Wenders (© Road Movies, Ruben Wallach/DCM Film)


Seiltänzer zwischen Trümmerdeutschland und Engelshimmel

Charlie Chaplin erzählte gern die Geschichte, wie ihm sein Freund Douglas Fairbanks, der frühe Actionstar, stolz die Ritterburg-Kulisse für seinen neuen Robin-Hood-Film zeigte. Da habe Chaplin nur auf das riesige Tor gedeutet und gesagt: „Das wäre ein schöner Anfang für einen meiner Filme. Jemand lässt die gewaltige Zugbrücke herunter und holt dann die Milchflasche rein.“ Wim Wenders gelingt ein ähnlich liebenswerter Filmanfang, und man konnte dem Festival in Cannes nur gratulieren, dass es für die Premiere seine haushohe Leinwand im Lumière-Palast bereitgestellt hat. Auch für die deutsche Premiere am 3. Oktober kam für Wenders offenbar nur das größte noch regulär bespielte Kino im Land, die Essener Lichtburg, in Frage.

Aus der Vogel- (heute sagt man: Drohnen-)Perspektive blickt man in eine riesige Atelierhalle, in der gut und gerne zwei Ikea-Läden Platz hätten. Anselm Kiefer produziert und lagert hier Kunst in gewaltigen Dimensionen. Lässig schubst er fast im Vorbeigehen ein auf Rollen montiertes Werk an seinen zugewiesenen Platz und setzt sich dann auf ein klappriges Fahrrad. Die Kamera begleitet ihn nun fahrend und auf Augenhöhe, sicher einen halben Kilometer entlang an endlosen Regalreihen mit Werken von teils monumentaler Größe. Dann hält der Künstler punktgenau, um zielsicher ein kleines Foto aus einer Kiste zu nehmen.

Wenn später ganze private Fotoalben des Künstlers durchgeblättert werden, schließlich mit digitaler Hilfe der Künstler als Seiltänzer zwischen Trümmerdeutschland und Engelshimmel balanciert, ist schnell klar: Wenders und Kiefer, beide Jahrgang 45, haben etwas gemeinsam. Die Abenteuerspielplätze ihrer Kindheit waren die Ruinen eines Krieges, den andere zu verantworten hatten. Deren Schweigen wiederum schuf ein Vakuum, das geradezu einlud, sich eigene Gedanken über ein Element der deutschen Kunst zu machen, das brachlag, wenn es nicht gar mit einem Tabu belegt war: das Pathos.

„Anselm“ zeigt riesige Kunstwerke in drei Dimensionen (© Road Movies, Wim Wenders/DCM Film)
„Anselm“ zeigt riesige Kunstwerke in drei Dimensionen (© Road Movies, Wim Wenders/DCM Film)


Spielszenen & Archivmaterial

Zu den Wenigen, die Kiefer sofort verstanden, zählte Joseph Beuys, dem er eine Bewerbung schrieb. In einer Spielszene sieht man Daniel Kiefer, der seinem Vater verblüffend ähnelt, einen VW-Käfer mit prallvollem Dachgepäckträger gen Düsseldorf kutschieren. Kiefer als Kind wird in anderen Szenen von Anton Wenders gespielt.

Die kurzen Spielszenen eröffnen eine Ebene der Naivität, die man angesichts der philosophischen Aufladungen des Werkes nicht unbedingt erwartet – aber durchaus anrührend finden kann. Anselm Kiefer selbst kommentiert seine Kunst mit einnehmend gebrochener Stimme, rezitiert Paul Celan und erzählt von einem glücklosen Versuch, Martin Heidegger ein Wort zu seinem Wirken in der NS-Zeit abzuringen.

Historische Fernsehberichte, im 3D-Raum abgespielt auf alten Röhrenapparaten, erinnern an die Zeit, als sich vor allem die deutsche Kulturkritik mit Kiefers Interesse an deutschen Mythen schwertat. Heute ist kaum noch vorstellbar, wie gnadenlos sein Beitrag auf der Venedig-Biennale 1980 verrissen wurde. Werken wie „Deutschlands Geisteshelden und Wege der Weltweisheit" wurde jede historische Distanz abgesprochen. Wenders lässt in seinen unkommentierten Montagen diese historische Kritik mit der heutigen fast ungeteilten Würdigung durch die internationalen Kunstinstitute kontrastieren.

Andererseits gab es natürlich früher auch schon differenziertere Stimmen. Zwischentöne allerdings sind in einem Künstlerdokumentarfilm, der ohne Expertenkommentare auskommt, schwer vermittelbar. Was in der Laufzeit von 93 Minuten hingegen noch zu kurz kommt, sind Werkaufnahmen – dabei ist das, was man sieht, durchaus spektakulär –, etwa Kiefers Arbeit mit dem Flammenwerfer als Malwerkzeug.

Immersiven Kunstausstellungen ist das Kino noch immer überlegen (© Road Movies, Wim Wenders/DCM Film)
"Immersiven" Kunstausstellungen ist das Kino noch immer überlegen (© Road Movies, Wim Wenders/DCM)


Weniger eben doch mitunter mehr

Doch so großzügig Wenders mit dem Raum umgeht, so geizig ist er manchmal mit der Zeit. Anders als sein Tanztheaterfilm „Pina“, dessen Rhythmus durch die Ballettausschnitte vorgeben war, liegt die Verweildauer vor einem Kunstwerk im Auge des Zeigenden. Es wäre interessant gewesen, wenn Wenders hier mehr Mut zur Langsamkeit gezeigt hätte. Galt sie nicht einmal – in Filmen wie „Im Lauf der Zeit“ oder „Der Stand der Dinge“ geradezu als das Markenzeichen des Wenders-Stils? Ebenso wie die Stille. Nun umgibt ein Übermaß an spätromantischer, fast wagnerianischer Filmmusik die Kunst von Anfang an. Für sich genommen ist sie ein Talentbeweis des jungen Komponisten Leonard Küßner, aber meist ist sie einfach nur zu viel.

Ganz zu schweigen von dem auf den ganzen Kinoraum abzielenden Klangdesign, von Vogelstimmen bis zu einer diffusen „Atmo“, die offenbar angetreten ist, um einzulösen, was der komplette Filmtitel verspricht: „Anselm – Das Rauschen der Zeit“. Auch bei einem Anselm Kiefer ist weniger eben doch mitunter mehr. Viel entscheidender aber ist natürlich: Wenders beweist mit der neuesten Filmtechnik – 3D in 6K-Auflösung – dass das Kino den derzeit grassierenden, „immersiven“ Kunstausstellungen noch immer überlegen ist.

Und das dürfte noch ein großes Thema werden: Wer etwa die gegenwärtig tourende Schau „Van Gogh – The Immersive Experience“ gesehen hat, mag sich nicht nur um die Zukunft des Kinos Sorgen machen, auch Kunstmuseen kann sie das Fürchten lehren. Was lässt ganze Familien trotz gewaltiger Eintrittspreise geduldig Schlange stehen, um in einer etwa halbstündigen Präsentation kein einziges Original zu sehen? Und stattdessen, eingelullt in urheberrechtsfreie Klassikhits, in eine Art Lichtbad aus rund fünfzig Digitalprojektoren mit einzutauchen? Schlecht aufgelöst, in falschen Farben? Das Ähnlichste zu solch einer immersiven Ausstellung in der Filmgeschichte ist die kitschig-opulente Tonbildschau, die man in Richard Fleischers „Soylent Green“ dem sterbenden Edward G. Robinson bei seinem assistierten Suizid vorführt. Wenders’ Künstlerporträts sind, gerade weil sie ein breites Publikum erreichten, ein Gegengift zu dieser Pest. Und die objektivierbare Räumlichkeit der zwei Kameraaugen ist der simulierten vorzuziehen, auch wenn diese mit hundert Projektoren daherkommt.

„Pina“ ist 2011 Wenders' erster Triumph mit der 3D-Technik (© NFP)
„Pina“ ist 2011 Wenders' erster Triumph mit der 3D-Technik (© NFP)


3D als Medium der subtilen Emotionalisierung

Mit seinem unterschätzten Berlinale-Beitrag, dem Spielfilm „Every Thing will be Fine“, hatte Wenders 2015 sehr erfolgreich mit 3D experimentiert und die Möglichkeiten der Technik für ein psychologisches Kammerspiel ausgelotet. Gegenüber dem Deutschlandfunk sagte er damals: „Man muss sich auch anders auf die Räume einlassen, nicht nur auf die Schauspieler. Die Räume spielen auf eine entscheidende Art und Weise auch mit, weil, man sieht auch immer, man spürt den Raum, man sieht den Hintergrund auf eine andere Weise. Und die Menschen sind auf eine andere Weise in diesem Raum. Und wir als Zuschauer sind auf eine andere Art und Weise bei ihm.“ Die bescheidene Holzhütte eines von James Franco gespielten jungen Autors wird so schon in der ersten Einstellung zu einem magischen Ort: Die winterliche Morgensonne vergoldet jedes Staubkorn – und setzt damit doch nur den dramatischen Kontrast für einen tragischen Unfall, der zum prägenden Trauma im weiteren Leben des ehrgeizigen Schriftstellers wird.

Wie kein Filmemacher vor ihm nutzt Wenders die Stereoskopie für sinnstiftende Spiegeleffekte, lässt hinter Fenstern betörende Landschaften aufscheinen, inszeniert Innenräume als Seelenräume. Wenders setzt 3D ein wie der große Kino-Melodramatiker Douglas Sirk in den 1950er-Jahren die Farben von Technicolor: Als ein Medium der Überhöhung und Verfremdung, der subtilen Emotionalisierung.

Schon damals, 2015, wollte kaum noch jemand im Blockbuster-Kino 3D-Filme sehen, aber Wenders bewies nach „Pina“ schon zum zweiten Mal, dass so eine Technik dabei helfen konnte, wieder das Hinsehen zu üben. Oder war es einfach die Rache eines Brillenträgers an den Normalsichtigen? Was jedenfalls dabei entstehen kann, ist eine merkwürdige Einkehr, vielleicht wie vor hundert Jahren, als man sich in der guten Stube zum Betrachten stereoskopischer Fotos versammelte. Die Zeit vergeht etwas langsamer, man folgt weniger den Bewegungen der Kamera, als dass man sich selbst in ihrer Tiefe umsieht. Und so, Schicht für Schicht, näher herantastet an die Figuren und die gläsernen Wände, die in dieser berührenden Geschichte so lange vom Leben trennen.

„Every Thing will be Fine“: sinnstiftende Spiegeleffekte durch 3D (© Warner Bros.)
„Every Thing will be Fine“: sinnstiftende Spiegeleffekte durch 3D (© Warner Bros.)


Aufklärung und Ästhetisierung

Wenders’ Weg zum Künstlerfilm vollzog sich über den Essayfilm. Sein abendfüllendes Nicholas-Ray-Porträt erwuchs aus der Idee, dem sterbenden Regisseur bei einem letzten Film zu helfen. „Tokyo-Ga“ entwickelte sich über die persönliche Annäherung an Japan zurück zu dem Filmemacher, der bei Wenders die besondere Affinität zu dieser Kultur ausgelöst hatte, Yasujiro Ozu. Beide Filme vermeiden über weite Strecken die etablierten Formen des Künstlerporträtfilms. Seine späteren, weniger autobiographisch argumentierenden, sondern allgemein-kulturvermittelnden Dokumentarfilme gehörten dann zu den größten Erfolgen seiner Karriere: Sowohl „Buena Vista Social Club“ als auch „Pina“ und „Das Salz der Erde“, das Porträt über seinen Fotografen-Kollegen Sebastião Salgado, wurden für „Oscars“ nominiert. Dabei eröffnet letzterer durch die Hintertür ein anderes Thema, das Wenders in seinem reichen Schaffen weiträumig umgangen hat: den politisch-humanistischen Film.

Als Fotograf war ihm der Aspekt sozialer Zeugenschaft nicht fremd, obwohl in seinem Werk der ästhetisch-poetische Blick stets vor dem inhaltlichen Mitteilungsdrang steht. Ein Moment, in dem beides zusammenfiel, war Ground Zero; gemeinsam mit seinem berühmten Kollegen Joel Meyerowitz hatte er die Stätte der Anschläge fotografieren können. Wer Zeuge wird, kann seinen Kopf nicht in den Sand stecken, oder wie es der von Wenders verehrte Bob Dylan formulierte: „Wie lange kann ein Mensch den Kopf schütteln und so tun, als sähe er nichts?“ Wie kaum eine andere Kunstform arbeitet sich die soziale Fotografie an dieser Frage ab. Bereits als Wenders den sterbenden Nicholas Ray vor die Kamera holte, stellte sich die Frage: Wo liegen die Grenzen der Anteilnahme, wo verbietet die Diskretion das Hinsehen im Angesicht des Todes?

Wenders begegnete den Schwarz-weiß-Bildern Sebastião Salgados dort, wo man soziale Fotografen sonst eher selten findet – in der Kunstgalerie, versehen mit inzwischen stolzen Preisschildern. Was er damals kaufte, ziert noch heute sein Büro. Aber es verbinden ja auch nicht viele Fotografen Aufklärung und Ästhetisierung so kunstvoll wie der Brasilianer.

Nicht in 3D, durch die Größe der Bilder aber ein klarer Vorgänger von „Anselm“: „Das Salz der Erde“ (© NFP)
Nicht in 3D, durch die Größe der Bilder aber ein klarer Vorgänger von „Anselm“: „Das Salz der Erde“ (© NFP)

Im glasklaren Breitbild des digitalen HD-Formats füllen seine inzwischen ikonischen Panoramen brasilianischer Goldsucher, brennender Ölfelder und inzwischen auch antarktischer Pinguine bei Wenders die Kinoleinwand – und erscheinen dabei fast noch überwältigender als im Original. Der Titel „Das Salz der Erde“ des gemeinsam mit dem Fotografensohn Juliano Ribeiro Salgado gedrehten Porträtfilms weckt Assoziationen an den gleichnamigen politischen Filmklassiker von Herbert J. Biberman, der 1954 von der Kommunistenhatz verfolgten Regisseuren ein Forum gab. Das „Salz der Erde“ seien die Menschen, so Salgado. Unermüdlich reiste er in seiner langen Karriere an Orte kaum vorstellbaren Leidens, fotografierte die Orte der Massaker der Hutu an den Tutsi in Ruanda, später die wechselnden Flüchtlingsströme. Irgendwann, so sagt er in imponierender Offenheit, erkrankte dann seine Seele. Später arbeitete Salgado vorrangig als Naturfotograf und rekultivierte erfolgreich einen abgeholzten Urwald aus dem ehemaligen Familienbesitz.


Kann man menschliches Leid nur im Gewand der Schönheit ertragen?

Bedächtig und druckreif kommentiert er seine Fotoreisen, meist aus dem Off, manchmal aber auch vor einer vom eigenen Werk sichtlich inspirierten Schwarz-weiß-Kamera. Doch so verdienstvoll es ist, an all die von der Weltöffentlichkeit ignorierten oder vergessenen Gräueltaten zu erinnern, den seinen Bildern immanenten, künstlerisch-ethischen Konflikt streift Wenders nicht: Warum erreicht menschliches Leid das Auge eher, wenn die Abzüge mit ihren überhöhten Weißwerten an Goya-Radierungen erinnern? Kann man menschliches Leid nur im Gewand der Schönheit ertragen? Das wäre ein ebenso interessantes Thema gewesen, zumal darin auch das Dilemma des politischen Spielfilms verborgen liegt.

Aber vielleicht hat Wenders ja auch schon alles über diesen Konflikt gesagt, der dem Blick auf das menschliche Leid immanent ist. In „Der Himmel über Berlin“ gibt es da zwei Engel, denen das bloße Zusehen sichtlich zu schaffen macht. So bleibt das Politische in Wenders Künstlerporträts eine ähnliche Leerstelle wie das Erotische in seinen Spielfilmen – immer mitgedacht, aber selten angesprochen – in weiter Ferne so nah.

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