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Passion: „Mulholland Drive“

Eine Erinnerung von Till Kadritzke an seine Eintrittskarte ins cinephiles Leben – und zugleich die Würdigung des besten Films über Wunsch und Wirklichkeit der sogenannten Traumfabrik

Veröffentlicht am
19. April 2021
Diskussion

Vor 20 Jahren feierteMulholland Drivevon David Lynch beim Filmfestival in Cannes seine Premiere. Ein Film, der alles vermag, was das Kino besser kann als alle anderen Künste: die geheimen Kräfte von Sein und Bewusstsein dort aufspüren, wo wir sonst kaum hinkämen, sie ineinander verzahnen, die Realität nicht gegen den Traum ausspielen, sondern sie im Traum sichtbar machen, die Fantasie erden, das Gesellschaftliche nicht gedanklich, sondern affektiv durchdringen.


Das Konzept des Auteurs, des Filmregisseurs als Künstler eigenen Ranges, habe ich durch die „Harald Schmidt Show“ kennengelernt. Es war ein Sketch anlässlich des neuesten Films eines gewissen David Lynch, in dem Harald Schmidt dessen Ästhetik zu persiflieren versuchte. Er saß in einem Auto auf einem Parkplatz und aß einen Burger, im Hintergrund angekitschte Düdelmusik. Ich war 16 und verstand es nicht. Die Erklärungsversuche meiner Eltern halfen nicht viel: irgendetwas über profane Alltagsszenen, die aber unheimlich sind. Und dass das alles irgendwie „genial“ war. Wegen David Lynch, dem Filmregisseur.

Bei mir blieb hängen, dass Filmstars nicht nur schauspielern. Dass es da noch ein anderes Register gab, ein Fach namens Regie, das irgendwie wichtig war. Den Namen Steven Spielberg kannte ich zu dieser Zeit wohl als einzigen eines Regisseurs, aber was der genau machte, war mir noch nicht ganz klar. Doch jetzt war meine Neugier (wenigstens will ich das aus heutiger Sicht so erinnern) geweckt. Weil in der „Harald Schmidt Show“, der ich sonst zumeist problemlos folgen konnte, auf einmal ein Mann in einem Auto auf einem Parkplatz saß, einen Burger aß, und Menschen das witzig fanden, weil es auf eine bestimmte (nicht, dass ich mit diesem Wort schon hantiert hätte) Ästhetik anspielte. Mangels einer authentisch cinephilen Kellerkind-Videonächte-Vergangenheit muss man sich mit solch seltsamen „origin stories“ für die eigene Filmleidenschaft behelfen.


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Die Unverständnis als Ereignis

Ein oder zwei Jahre später sah ich erstmals den Film, der Anlass für den Sketch gewesen war. Nachbar Rainer aus dem dritten Stock, in dessen pompösem Heimkino ich schon diverse Kindergeburtstage mit Disneyfilmen oder E.T. gehostet hatte, hatte die Hausgemeinschaft zu einem Screening von Mulholland Drive eingeladen. Ich verstand den Film nicht, aber dieses Unverständnis war ein Ereignis. Das ging auch meiner Mutter so, die ein paar Monate später dem Haushalt einen ersten DVD-Player spendierte, mit „Mulholland Drive“ als Premierenfilm fürs Heimkino, weil man so einen Film, über den man damals so viel diskutiert hatte, ja sicherlich gut nochmal sehen konnte.

Ein Film über das Verhältnis von Wunsch und Wirklichkeit (© Concorde)
Ein Film über das Verhältnis von Wunsch und Wirklichkeit (© Concorde)

Und klar, das konnte ich, das wollte ich. Bis jetzt hatte ich Filme mehrmals angeschaut, um das Bekannte zu genießen, König der Löwenfünfmal, Titanic wohl noch öfter, eher ein Wiederholungszwang denn ein Ausdruck anhaltender Neugier. Jetzt war das anders, und als ich nach der zweiten Sichtung von „Mulholland Drive“ – es waren die frühen Tage des Internets – auch noch auf entsprechende Diskussionsforen bei der IMDb stieß, auf denen jede noch so scheinbar nichtige Dialogzeile einen ganzen Rattenschwanz an Theorien nach sich zog, war es endgültig um mich geschehen. Filme können ja krass sein.


Ein Rätsel, das nicht aufgelöst werden will

Zwanzig Jahre später empfinde ich genau das als falsch, was ich damals krass fand: diese nerdige Spurensuche, die detektivische Arbeit an einem Werk, das nichts so wenig möchte wie aufgelöst werden. Ein Fehler, dieses große Rätsel, das dieser Film ist, als Herausforderung für die Synapsen zu verstehen, nicht als eine für die Sinne. Und doch hat mir das Stöbern in den „Mulholland Drive Studies“ der Lynchologen damals tatsächlich etwas gebracht: die Einsicht nämlich, dass dieser Film ziemlich transparent ist. Dass man seine Größe verkennt, belässt man es bei der bloßen Faszination des Unverständlichen, denn dieses ist kein Freifahrtschein in Richtung Kultstatus. Dass das Rätsel nicht aufgelöst werden will, heißt nicht, dass es beliebig ist.

Die Fantasie ist bei Lynch schließlich kein Reich der Freiheit, sondern Medium, um von Realitäten zu erzählen. So ist vollkommen klar, dass hier eine verstörte, geschlagene, bis zum Äußersten getriebene Frau in der ersten Szene ins Bett geht, um alles zu vergessen, um nochmal von vorn anzufangen, beim Jitterbug-Contest, um ihr Leben zu berichtigen, alles nochmal durchzuspielen, als große Romanze, als großen Traum. Und dann erzählt „Mulholland Drive“, wie ihr noch im Traum klar wird, dass der Traum längst aus ist.

Um diese zwei Bedeutungen von Traum kreist der Film: einerseits der Traum als Arbeit des Unbewussten, als unser ganz persönliches Reich, in dem unsere Wünsche, unsere Erfahrungen, unser Leben verrätselt und gerade dadurch ganz unverstellt zu Tage treten; andererseits der Traum als Luftschloss, als Objekt des Begehrens, als Fantasie des guten Lebens. In „Mulholland Drive“, das wird mit jeder Sichtung klarer, hat sich jemand dieser Fantasie hingegeben und ist zerstört worden; das Träumen ist die letzte Möglichkeit, nochmal irgendetwas zu reparieren. Eine zum Scheitern verurteilte Möglichkeit, denn Träume, im Kino wie im Schlaf, sind begrenzt.

Ein Film auch über den weiblichen Albtraum einer männlichen Traumfabrik (© Concorde)
Ein Film auch über den weiblichen Albtraum einer männlichen Traumfabrik (© Concorde)


Der Wunsch und das Gesellschaftliche

„Es gibt nur den Wunsch und das Gesellschaftliche, sonst nichts“, haben Deleuze und Guattari notiert, und Lynchs Kino vermittelt das eine über das andere. „Mulholland Drive“ ist keine zynische Absage ans Träumen, es sind schließlich sehr konkrete Umstände, die die Wunschmaschinen ausbremsen. Anders als bei langweiligen Mindfuck-Filmen ist hier die Frage nicht „Wunsch oder Wirklichkeit?“, sondern das Verhältnis von Wunsch und Wirklichkeit ist Fluchtpunkt aller Bilder. Hierin ist der Film auch politisch, geradewegs feministisch: der weibliche Albtraum einer männlich dominierten Traumfabrik, in der dicke, alte Männer in Hinterzimmern über das Schicksal dünner, junger Männer entscheiden, die wiederum über das Schicksal junger Frauen anhand von Fotos entscheiden. Ein Albtraum mit Kapitalisten, Unternehmern und Proletarierinnen also, die alle gemeinsam Träume fabrizieren, die manche reich machen und andere zerstören. Ein Film, der Metaphern beim Wort nimmt.

Dass ich ausgerechnet über „Mulholland Drive“ zum Film gekommen bin, mag ein historischer Zufall sein. Aber noch heute vereint dieser Film für mich alles, was das Kino besser kann als alle anderen: die geheimen Kräfte von Sein und Bewusstsein dort aufspüren, wo wir sonst kaum hinkämen, sie ineinander zu verzahnen, die Realität nicht gegen den Traum ausspielen, sondern sie im Traum sichtbar machen, die Fantasie zu erden, das Gesellschaftliche nicht gedanklich, sondern affektiv zu durchdringen.

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