Auf den Straßen von Paris feiern die Bewohner ekstatisch den frisch gewählten Präsidenten François Mitterrand. Es ist das Jahr 1981; die neue sozialistische Regierung nährt bei vielen die Hoffnung auf Veränderung. Inmitten dieser Aufbruchsstimmung widmet sich „The Passengers of the Night“ einer Familie, die den Wandel in den nächsten Jahren auch im Privaten erlebt.
1984 lebt Élisabeth (Charlotte Gainsbourg) mit ihren fast erwachsenen Kindern Matthias (Quito Rayon-Richter) und Judith (Megan Northam) in einen futuristischen Wohnkomplex nahe des Eiffelturms. Dass der Ehemann und Vater die Familie gerade verlassen hat, macht insbesondere Élisabeth zu schaffen, die voller Zweifel einen Neuanfang wagen muss. Selbstbewusster wird sie schließlich, als sie als Telefonistin für die Radiomoderatorin Vanda (Emmanuelle Béart) arbeitet, die ihre Hörer als „Passagiere der Nacht“ begrüßt. Auch den grüblerisch ernsten Matthias begleitet Regisseur Mikhaël Hers dabei, wie er zwischen drögem Schulalltag und seinem Traum, Dichter zu werden, nach seinem eigenen Weg sucht.
Durch die Hintertür ins Kino
Diese Geschichten laufen zwar überwiegend parallel ab, doch die Protagonisten müssen sich mit dem sich langsam verändernden Familiengefüge auseinandersetzen. Besonders Élisabeth und Matthias versuchen einen anderen Umgang miteinander zu finden, weil der 17-Jährige sich dem mütterlichen Schutz entzieht. Die komplexen Beziehungen drücken sich in „The Passengers of the Night“ nicht selten durch scheinbar nebensächliche Gesten aus. Etwa in einer zögerlichen Umarmung, in der die zunehmende Distanz zwischen Mutter und Sohn deutlich wird.
Mit der Vagabundin Talulah (Noée Abita) führt Hers eine Figur ein, die die Familie näher zusammenbringt, aber zugleich für Reibungen sorgt. Nachdem das Mädchen in Vandas Radiosendung zu Gast war, quartiert Élisabeth sie spontan in ihrem Dachzimmer ein. Bald entsteht eine besondere Anziehung zwischen ihr und Matthias. Dem Jungen öffnen sich durch den Gast buchstäblich neue Türen. Heimlich schleichen sich die beiden durch den Hintereingang ins Kino, um sich dort Éric Rohmers „Vollmondnächte“ anzusehen.
Ein Leben in der Schwebe
Talulah hat sich von bürgerlichen Konventionen gelöst. Durch ihr Leben auf der Straße sieht sie sich mit ganz anderen Herausforderungen konfrontiert. Über ihre Vergangenheit hält der Film sich bedeckt; auch sonst wirkt diese naive, lolita-hafte und etwas blass gezeichnete Figur vor allem wie ein Scharnier zwischen den Familienmitgliedern.
Doch so plötzlich wie sie verschwindet und dann wieder auftaucht, verkörpert Talulah auch ein bisschen die mäandernde, nie auf einfache Lösungen oder Gewissheiten zusteuernde Erzählweise des Films. Zweimal macht die Geschichte einen mehrjährigen Zeitsprung, setzt dabei zwar nicht komplett neu an, lässt aber doch vieles offen. In wiederkehrenden impressionistischen Stadtaufnahmen wird die Nacht zum Leitmotiv für ein Leben in der Schwebe.
Vor allem Charlotte Gainsbourg verkörpert mitreißend zerbrechlich das ewig Ungewisse. Eine beiläufig gefilmte Narbe auf ihrer Brust deutet an, dass sie die Flüchtigkeit des Glücks schon am eigenen Leib erfahren musste. Aber ihrer notorischen Unsicherheit steht auch eine unstillbare Neugier gegenüber. Als sie sich auf ihr erstes Date mit dem jüngeren Hugo (Thibault Vinçon) vorbereitet, ist sie aufgeregt wie eine Teenagerin. Schnell leiht sie sich noch den Lippenstift ihrer Freundin, nur um die Farbe gleich wieder halb von ihren Lippen zu wischen, weil sie sich damit dumm und verkleidet fühlt.
Dem Prinzip des Umbruchs verpflichtet
Mikhaël Hers, der voller Güte und Mitgefühl für seine Figuren ist, schenkt Élisabeth und Hugo glückliche Momente, stellt aber auch klar, dass sich diese noch nicht ganz definierte Beziehung im Anfangsstadium befindet. Statt auf eine dramaturgisch durchgetaktete Geschichte zu setzen, die auf Konfrontationen und Befreiungen hinausläuft, bleibt „The Passengers of the Night“ dem Prinzip des Umbruchs bis zum Schluss treu. Meist sind es alltägliche Beobachtungen, Stimmungen und Emotionen, die im Vordergrund stehen. Dabei muss nicht unbedingt gesprochen werden, um viel zu sagen. Nach einem gemeinsamen Abendessen mit Talulah hört die Familie sich eine Platte des Chansonsängers Joe Dassin an. Zunächst tanzen nur Élisabeth und Matthias miteinander, doch dann öffnet sich der Kreis und alle legen die Arme umeinander, während sie sich sanft im Takt der Musik wiegen. Die Kraft, die durch den Zusammenhalt entsteht, zeichnet sich in diesem Moment ab; durch die gesenkten Köpfe und geschlossenen Augen wird aber auch angedeutet, dass letztlich jeder mit sich und seinen Entscheidungen allein bleibt.