Kann man einen absolut optimistischen Film über die Möglichkeiten gesellschaftlichen Wandels machen, an dessen Schluss der charismatische Protagonist stirbt? Wie in seiner „Todestrilogie“ („Gerry“, „Elephant“ und „Last Days“) wendet sich Gus Van Sant mit „Milk“ einmal mehr realen politischen Ereignissen zu, erzählt aber vergleichsweise konventionell eine bekannte, freilich recht unkonventionelle Geschichte.
„Milk“ ist der prägnante Titel des Bio-Pics über die Geschichte von Harvey Milk, dem ersten bekennenden schwulen Stadtverordneten der USA, der es in den 1970er-Jahren als Gay-Aktivist in San Francisco zu überregionaler Berühmtheit (und politischer Wirkung) brachte, bevor er von seinem konservativen Politikerkollegen Dan White im November 1978 zusammen mit dem damaligen Bürgermeister George Muscone ermordet wurde. Gus Van Sant rekonstruiert Leben und Wirken des Bürgerrechtlers, erinnert an das unverdrossene Weitermachen trotz Wahlniederlagen, zeigt zudem, wie aus dem Vertreter der Gay Community und der Counter Culture der Castro Street allmählich ein strategisch denkender und handelnder Kommunalpolitiker wird, und entwirft so ein Bild des liberalen Aufbruchs der 1970er-Jahre, das sich problemlos als schwungvolle Grußadresse Richtung Barack Obama interpretieren lässt. „Yes, we’re open!“, steht unübersehbar neben der Eingangstür von Milks Fotoladen; sein (in jeder Hinsicht verallgemeinerbares) Credo lautet: „You gotta give them hope.“
"Das Private ist politisch"
Der Film beginnt 1970 in New York, als Harvey Milk, damals noch Anzug tragender Börsianer, am Vorabend seines 40. Geburtstages in der U-Bahn einen wildfremden, jungen Mann anspricht, besser: auf charmant unverfrorene Weise anmacht. Milk hat ein Problem: Er ist 40 Jahre alt und hat noch nichts Bedeutsames in seinem Leben geleistet. Und: Ihm schwant, dass er seinen 50. Geburtstag nicht erleben wird. Zwei Jahre später, 1972, eröffnet er mit seinem Freund Scott Smith den Fotoladen in der Castro Street und beginnt, sich kommunalpolitisch wie bürgerrechtlich zu engagieren.
Van Sants Spielfilm bedient sich in seiner episodischen Erzählweise mitunter höchst intelligent im Bilderfundus des berühmten Dokumentarfilms „The Times of Harvey Milk“, wobei dessen Einstellungen teilweise zitiert, aber auch regelrecht „reenacted“ werden. Durch dieses Verfahren wird es möglich, über das öffentliche Leben Milks hinaus zu erzählen und eindrucksvoll zu zeigen, dass hier auch gesunder Egoismus obwaltet, nämlich die persönlichen Interessen Milks. „Das Private ist politisch“, lautete der Slogan von 1968, was umgekehrt genauso gilt, wenn Milk später sein Privatleben den Zwängen des Politischen opfert. Dafür steht die Trennung von Smith, aber auch der Selbstmord von Milks späterem Geliebten Jack Lira.
Diese Weitung des Blicks unterminiert die Gefahr eines zu weihevollen Tons. Die eminente politische Bedeutung von „Milk“ liegt in dieser Ergänzung, die mit den Mitteln der Fiktion entscheidende Leerstellen füllt und nun einen Blick auf „The Life & Times of Harvey Milk“ gestattet. Integraler Bestandteil ist dabei die darstellerische Leistung von Sean Penn in der Titelrolle. Penn gelingt das Kunststück, Milk nicht nur als Ikone des gesellschaftlichen Aufbruchs zu zeichnen, sondern darüber hinaus auch als Mann, dessen Körpersprache von einer homosexuellen Praxis erzählt – ohne dabei nur mit zwei, drei Gesten aus dem Tuntenkabinett für die Galerie zu zaubern. Penn rettet der Figur neben allen politischen Strategien ein wichtiges Moment freundlich-optimistischer Naivität, auf der das öffentlichkeitswirksame Charisma Milks zu gründen scheint – auch, als er bereits als erfolgreicher Politiker „etabliert“ ist. Hier nimmt sich jemand permanent sein Recht, ein würdevolles Leben „out of the closet“ zu führen.
Mehrere Zeitebenen
Milks einnehmendes Wesen begeistert seine Umgebung, sein Einsatz für politische Ziele nimmt private Opfer in Kauf. Dass sein politisches Engagement mörderische Konsequenzen haben wird, stellt der Film, der von Beginn an meisterhaft auf mehreren Zeitebenen spielt, früh klar. Nie wird beschönigt, dass eine derart exponierte Figur wie Milk in ständiger Gefahr schwebt, Opfer eines Attentats zu werden.
Von durchaus gewollter Aktualität erscheint, dass der Widerstand gegen die Liberalisierung der Lebenswelt seitens christlicher Fundamentalisten unerhört borniert argumentiert („There are evil forces roundabout us!“). Dass der Erfolg der Emanzipationsbewegungen überkommene Werteordnungen in Frage stellt, bezeugt die tiefe Verstörung des späteren Mörders Dan White, der für den schlitzohrigen Charme des pragmatischen Utopisten Harvey Milk und wohl auch für die Zeitläufte zu einfach gestrickt ist. Van Sant verzichtet allerdings darauf, diese Figur zu dämonisieren. Dan White ist jemand, der nicht mehr mit kommt, dessen Aggression aber trotzdem weniger eine Reaktion auf Milks Lifestyle ist, sondern aus der Frustration über dessen politische Erfolge herrührt. Gegen das modisch gewordene 1968er-Bashing führt Gus Van Sant unmissverständlich vor Augen, dass es gerade mal 40 Jahre her ist, als Homosexuelle damit rechnen mussten, verhaftet, verprügelt, drangsaliert und bestenfalls diskriminiert zu werden.
„Milk“ setzt den Erfolgen der mutigen Aktivisten aus den 1970er-Jahre ein filmisches Denkmal, erzählt von der Kraft, die es braucht, sich wider den reaktionären Zeitgeist zu behaupten. Dass dieser kollektive Kampf durchaus hedonistische Party-Qualitäten haben kann, verbürgt hier ein großartiger Disco-Soundtrack inklusive eines famosen Auftritts der schwulen Pop-Ikone Sylvester („You make me feel mighty real“).