© IMAGO / Everett Collection („The Sword of Doom“)

Das Unsagbare - Tatsuya Nakadai

Eine Würdigung des japanischen Schauspielers Tatsuya Nakadai

Veröffentlicht am
31. Dezember 2023
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Vor allem seine Rollen für Akira Kurosawa haben den japanischen Schauspieler Tatsuya Nakadai weltbekannt gemacht, vom schusswaffenverliebten Jungspund in „Yojimbo“ bis zum greisen Fürsten in „Ran“. Der am 13. Dezember 1932 geborene Darsteller hatte seinen Durchbruch mit dem dreiteiligen Antikriegsfilm „Barfuß durch die Hölle“ und bewährte sich in Samurai-Filmen, Genreparodien und ernsten Gesellschaftsdramen. Gemeinsam ist all seinen klassischen Rollen die Betonung seiner beredten Augen, in denen sich Tragik wie dämonische Züge abbilden können.


Tatsuya Nakadais Figuren leben in seinen Augen. Als Samurai Ryunosuke richtet er sie nicht auf seine Widersacher, stellt sich seinem Gegenüber nicht im klassischen, geradlinigen Stand entgegen. Er senkt sein Schwert und wartet, die Augen ins Leere gerichtet, auf eine Gelegenheit, den Gegner zu töten. Ryunosuke tötet Widersacher, tötet Unschuldige. Er tötet so lange, bis die Leere selbst aus ihm zu starren scheint.

Kihachi Okamoto wird den grausamen Samurai mit einem Freeze Frame, dem letzten Bild von „The Sword of Doom“ (1965), für immer in dieser Leere gefangen halten. Akira Kurosawa findet den gleichen Blick, die gleiche unvergessliche Tiefe von Nakadais Augen das erste Mal in „Yojimbo“ (1961). Das eindrücklichste Bild des Films zeigt den dämonisch lächelnden Hipster-Samurai Unosuke – wieder ist Nakadai der Antagonist, der sich dem von Toshirô Mifune verkörperten Helden entgegenstellt – vor einem brennenden Haus. Es scheint keinen Zweifel zu geben, das nicht seine Bande, sondern seine Augen selbst die Welt in Flammen gesetzt haben. Ob als dämonischer Antiheld wie als tragischer Held: niemand trägt das Unsagbare in den Augen wie Tatsuya Nakadai.


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Japans archetypischer Tragödien-Darsteller

Bis ins hohe Alter ist er der archetypische Tragödien-Darsteller Japans geblieben. Seine letzte Rolle für den 2022 verstorbenen Masahiro Kobayashi steht geradezu symbolisch als ein Schlusspunkt, der kein Schlusspunkt sein möchte. In „Lear on the Shore“ (2017) spielt Nakadai einen demenzkranken Schauspieler, dem die Krankheit sukzessive das Bewusstsein entreißt. Allein die Zeilen aus Shakespeares „King Lear“ bleiben in der Erinnerung. Lear ist die quintessenzielle Nakadai-Figur. Ein Archetyp, den er nicht nur in Akira Kurosawas „Ran“ (1985), sondern in unzähligen Variationen verkörpert hat. In Shirō Toyodas „Portrait of Hell“ (1969) soll Nakadai als koreanischer Maler Yoshihide ein Porträt der Hölle für den grausamen Fürsten Hosokawa zeichnen. Die Rolle des großen Künstlers, der nur das malen kann, was er mit eigenen Augen gesehen hat, ist praktisch eine Metapher für das Schauspiel Nakadais. Denn Yoshihide kann nur das malen, was sich in seinen Augen spiegelt. Die Hölle muss sich ihm erst offenbaren, bevor er sie auf die Leinwand bringen kann. Der albtraumhafte Höhepunkt des Films wird die Hölle auf Erden bringen. Als die Tochter des Künstlers vor seinen Augen verbrannt wird, sind es die Augen Nakadais, in denen sich die Hölle manifestiert, in denen die Menschlichkeit verglüht.

Schon „Barfuß durch die Hölle“ (1959) setzt auf Nakadais intensiven Blick (© IMAGO / Everett Collection)
Schon „Barfuß durch die Hölle“ (1959) setzt auf Nakadais intensiven Blick (© IMAGO / Everett Collection)

Auch Nakadais Durchbruch gelang durch eine der großen tragischen Rollen des japanischen Kinos. Mit „Barfuß durch die Hölle“ (1959), Masaki Kobayashis Adaption von Gomikawa Junpeis enorm populärem Roman „Ningen no jōken“ („Bedingungen des Menschen“) wird der damals 26-Jährige zum Star. Auch Kobayashi soll das Ende des Films als Großaufnahme der Augen Nakadais geplant haben („Die Augen, die ich im Kopf hatte, waren deine, Nakadai.“). Der oft als Opus magnum Kobayashis genannte Antikriegsfilm erzählt vom Weg des jungen Kaji, der zu Kriegszeiten als Vorarbeiter einer Eisenbahngesellschaft in die Mandschurei versetzt wird, wo er ein Lager chinesischer Kriegsgefangener leiten muss, bevor er schließlich an die Front geschickt wird und in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager zugrunde geht. Der junge Nakadai wächst über die vier Jahre dauernde Produktion in die Rolle hinein. Der unerfahrene, gänzlich unschuldig wirkende Jungdarsteller der ersten Episode ist zum bitteren Ende des dritten Teils nicht mehr zu erkennen. Kaji stirbt, Tatsuya wird geboren. Als große Figur der Traumata japanischer Geschichte.


Aus dem Schatten des Zweiten Weltkriegs

Nakadais eigene Kindheit steht im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Der Hunger ist ein ständiger Begleiter, ebenso wie die verbrannten Leichen, die er täglich auf dem Weg zur Schule sieht. Anders als viele der großen Filmemacher und Weggefährten wie Toshirô Mifune, Kihachi Okamoto und Masaki Kobayashi bleibt Nakadai aufgrund seines Alters vom Fronteinsatz verschont. Seine Schauspielkarriere beginnt an der Haiyuza Training School. Das moderne „Shingeki“-Theater, für das er ausgebildet wird, kann allein den Lebensunterhalt aber nicht sichern. So verdient sich der 23-jährige Nakadai mit „gaya“-Rollen in Radio-Dramen (gaya ist der Name für die Hintergrundgespräche, die damals live aufgeführt wurden). Die legendäre Schauspielerin Yumeji Tsukioka entdeckt den jungen Nakadai in einer dieser Nebenrollen und heuert ihn für das von ihrem späteren Ehemann Umetsugu Inoue inszenierte Nikkatsu-Projekt „Hi no tori“ (1956) an. Statt den ihm angebotenen Vertrag beim Studio zu unterschreiben, arbeitet Nakadai frei, muss das von ihm geliebte Theater nicht aufgeben und kann, obschon für deutliche Honorareinbußen, für alle sechs großen Studios der goldenen Ära des japanischen Films (Tōhō, Nikkatsu, Shōchiku, Toei, Daiei und Shintoho) drehen.

Als Gegner des Helden in „Yojimbo“ (© KSM)
Als Gegner des Helden in „Yojimbo“ (© KSM)

Große Regisseure prägen die Karriere Nakadais. Neben den bereits genannten Kobayashi, Kurosawa und Okamoto dreht Nakadai mehrere Filme mit Mikio Naruse, Keisuke Kinoshita, Kon Ichikawa und Hiroshi Teshigahara (die Liste ließe sich zweifelsfrei um weitgehend unterschätzte Regisseure wie Hideo Gosha und Shirō Toyoda erweitern). Die großen darstellerischen Leistungen Nakadais sind uneitel. Oft schmiegt er sich an den Stil des jeweiligen Filmemachers an, gibt sich ganz dem hin, was der Ton des Films verlangt. In Kurosawas „Zwischen Himmel und Hölle“ (1963) steht er an der Seite Mifunes, der einen Großunternehmer spielt, der sein eigenes Vermögen aufs Spiel setzen muss, um den entführten Sohn seines Fahrers zu retten. Kurosawa treibt den Protagonisten in dessen eigenem Anwesen – ein Elfenbeinturm, der ganz Tokio überblickt – in die Enge, hetzt ihn durch den Frame und übersetzt die Last von Schuld und Verantwortung in die rastlose Bewegung des Getriebenen. Nakadai ist als Ermittlungsleiter das stille Zentrum des Films. Oft harrt er in der Mitte des mit den komplexen Bewegungen gefüllten Frames aus, hält mit seinem Blick die Geometrie des Films in der Balance, um ihn schließlich beim Abstieg in die unteren Etagen der Gesellschaft zu führen.


Gepeinigte Seelen und komisches Talent

Nakadai glänzt oft dort, wo nicht viel passiert. In Naruses leisen Mittelstands-Dramen ist er eine idiosynkratische und zugleich tief in den Rhythmus des Films eingebettete Präsenz. An der Seite von Hideko Takamine spielt er in „Die Mädchen der Ginza“ (1960) einen Barmanager, der sich in die Wirtin Keiko (Takamine) verliebt, seine Leidenschaft aber bis zuletzt verbirgt. Wie so oft sind es Nakadais Augen, aus denen die Leidenschaft spricht, die er selbst unter Verschluss hält.

In Hiroshi Teshigaharas „The Face of Another“ (1966) sind lange nur die Augen Nakadais zu sehen. Bei einem Arbeitsunfall verliert der Protagonist sein Gesicht. Doch selbst als er in Form einer Maske ein neues bekommt, findet er seine Identität nicht wieder. Nakadai ist die gepeinigte Seele, die nicht mehr zu sich findet. In Kurosawas „Kagemusha“ (1980) wird er eine ähnliche Rolle einnehmen, den Fürsten Takeda Shingen (1521-73) und zugleich dessen Doppelgänger, einen einfachen Dieb, verkörpern. Als Shingen stirbt, muss sein Doppelgänger die Rolle des Herrschers einnehmen. Heimgesucht vom Geist des Verstorbenen, von einer Seele, die ihr Imperium nicht loslassen will, muss der Doppelgänger dem langsam zersplitternden Reich Shingens beim Sterben zusehen.

In „Kagemusha“ verliert sich der Fürsten-Doppelgänger in seiner Rolle (© 1980 Twentieth Century Fox Film Corporation)
In „Kagemusha“ verliert sich der Fürsten-Doppelgänger in seiner Rolle (© 1980 Twentieth Century Fox)

Mit Kihachi Okamoto, zu dem er eine tiefe Freundschaft pflegte, trägt Nakadai ganze Genres zu Grabe. In Okamotos irrwitzigen Genre-Stücken kann Nakadai sein oft übersehenes Talent fürs Komische ausleben. Als Professor Shinji Kikyo wehrt Nakadai in „The Age of Assassins“ (1967) die Attentate einer Assassinen-Geheimgesellschaft mit spielerischem Ungeschick ab. Wie ein Kleinkind tölpelt Nakadai durch den Film, zeigt ein bizarres haptisches Interesse an den Requisiten und spielt sich mit seiner naiven Kindlichkeit unter dem um ihn herum ausbrechenden Wahnsinn durch. Ein Jahr später tun sich Nakadai und Okamoto zur nächsten Genreparodie zusammen. In „Kill!“ (1968) setzen beide einen absurd-komischen Schlusspunkt unter das Chanbara-Genre, den Schwertkampf-lastigen Samuraifilm, mit dem Nakadais Name außerhalb Japans wohl am ehesten in Verbindung gebracht wird. Für Hideo Gosha drehte Nakadai mit „Goyokin“ (1969), „Bandits vs. Samurai Squadron“ (1978), „The Wolves“ (1971) und „Hunter in the Dark“ (1979) einige der besten, exakt nach Genre-Schablone überzeichneten Samurai- und Yakuzafilme. Okamoto führt den für das Genre klassischen Konflikt zwischen Pflichtbewusstsein und Moralempfinden ad absurdum, macht den Bushido zum Witz, dem sich Nakadais pazifistischer Ex-Samurai Genta zu entziehen versucht, aber nicht entziehen kann.


Am Ende der Geschichte

Masaki Kobayashi rechnet in „Harakiri“ (1962) gleichermaßen mit dem moralischen Verfall des (Tokugawa-)Shogunats und der Samurai-Klasse ab. Kobayashi trägt die gleiche Wut in sich wie Okamoto, verweist gleichermaßen von der Geschichte aus in Richtung Gegenwart, bedient sich aber doch einer geradezu diametral entgegengesetzten Ästhetik. „Harakiri“ ist nicht absurde Farce, sondern bitterste Tragödie. Nakadai trägt die Anklage als Samurai Tsugumo und zugleich als Erzähler vor. Wie die traditionelle Kabuki-Theater-Figur des „Kyogen-mawashi“ übernimmt er beide Rollen. Sein sonorer Bariton, in anderen Rollen oft im Naturalistischen verborgen, trotzt dem moralisch verkommenen Schwertadel, der ihm, dem ehemaligen Samurai, Witwer, Vater und Großvater alles genommen hat.

Als ohnmächtiger Zeuge des Weltenbrands in „Ran“ (© IMAGO / Everett Collection)
Als ohnmächtiger Zeuge des Weltenbrands in „Ran“ (© IMAGO / Everett Collection)

Wo Kobayashi die völlige Zerstörung eines Lebens noch in einen letzten Akt des Widerstands umsetzt, nimmt Kurosawa seinem Hauptdarsteller in ihrer letzten Zusammenarbeit „Ran“ jegliche Handlungsmacht. Die Welt, die der von Nakadai verkörperte Fürst Ichimonji errichtet hat, brennt. In einer der größten Sequenzen der Filmgeschichte stolpert Nakadai als greiser Fürst die Treppen hinunter. Das Schloss hinter ihm steht in Flammen, das Heer zu seinen Füßen teilt sich, sieht zu, wie der Herrscher durch das Tor in die Abgründe des eigenen Wahns schreitet. Eine monumentale Sequenz, in der man den Wahnsinn in Nakadais Augen durch die Noh-Theatermaske funkeln sieht und noch im apokalyptischen Panorama die Leere spürt, in die er seine gefallene Lear-Figur starren lässt. Nakadais Augen brennen. Und die Welt brennt mit ihnen.

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