© imago/Jakob Hoff (Filmdosen aus einem Keller in Berlin-Kreuzberg)

Von Piraten und Sammlern

Ein Essay über das Sammeln von Filmen und die vielen Schwierigkeiten und Herausforderungen, die damit verbunden sind

Veröffentlicht am
25. März 2022
Diskussion

Filmrezeption heißt Sammeln. Über die Notwendigkeit, Filme zu bewahren, herrscht in der Theorie kein Zweifel, doch in der Praxis ist man beständig mit Schwierigkeiten und angreifbaren Kriterien konfrontiert. Staatliche, private und piratengleiche illegale Filmarchive existieren deshalb weitgehend unabhängig nebeneinander. Dabei läge im Austausch der Sammlerschaften zumindest die Chance, von den anderen zu profitieren, statt sich im eigenen Elfenbeinturm einzuigeln.



„Die alte Welt erneuern – das ist der tiefste Trieb im Wunsch des Sammlers, Neues zu erwerben (…).“

Walter Benjamin


Der Großteil der Filmgeschichte ist verloren oder wird verlorengehen. Da darf man sich nichts vormachen. Über Stummfilme weiß man das schon. Viele von ihnen wurden eingeschmolzen, um Nagellack und Schuhwichse herzustellen. Die Geschichte wird sich, wie sie es unablässig zu tun pflegt, wiederholen, nur weniger nachhaltig. Experten verkünden bereits, dass insbesondere das, was in den letzten vierzig Jahren produziert wurde, größtenteils verschwinden wird.

Panisch gebauten Festplattenbunkern und eingefrorenen Internetzeitmaschinen zum Trotz war das Kino immer nur für den Moment gemacht. Die Ewigkeitsbeteuerungen und Liebeserklärungen an den Akt der Vervielfältigung und Kopienerstellung gelten letztlich den überlebenden Werken, nicht den bereits vergessenen. Die vielfach beschriebene Zeitlichkeit, die uns aus alten Filmen oder Fotografien entgegenblickt, übersieht geflissentlich die traurige Unwirklichkeit all jener Bilder, die nicht mehr blicken. Sie überleben – wenn überhaupt – in Erinnerungen, aber die sind im öffentlichen Diskurs aus der Mode gefallen, weil sie nicht objektiv belegbar sind und weil ihre Fehlerhaftigkeit den Illusionen von Gerechtigkeit zuwiderläuft. Die Geschichte des Films wird mehr und mehr eine Geschichte von Bildern, die wir nicht (mehr) sehen können.


Nur einige Körner werden bewahrt

Staatliche und institutionelle Bemühungen, Filme zu restaurieren und zu präservieren, „retten“ nur einige Körner aus dem Wind der Zeit; zudem sind ihre Mittel eingeschränkt und haken an politischer Ignoranz, Zufällen und ideologischen Beschränkungen. Selbst, wenn man es nicht glauben will, wird man manche Filme, an deren Projektion vor einigen Jahren man sich genauestens erinnert, nie wieder sehen können. Wir werden uns zwicken müssen, um nicht zu vergessen, dass wir das Kino nicht nur geträumt haben. Das ist vielleicht auch gar nicht schlimm. Vergänglichkeit ist in unser Leben und somit auch in jede Kunstform eingeschrieben. Es ist ohnehin besser und gesünder, nicht zu glauben, dass man alles sehen und bewahren könne. Noch gibt es ohnehin mehr Auswahl, als ein einzelner Mensch in einem Leben sehen kann. Die Frage ist nur, ob diese Auswahl nach bestem Gewissen getroffen wird.

Die niederländische Königin Máxima im EYE-Filmmuseum in Amsterdan (imago/ANP)
Die niederländische Königin Máxima im EYE-Filmmuseum in Amsterdan (© imago/ANP)

Obwohl das Kino, insbesondere im 20. Jahrhundert, unser Dasein auf diesem Planeten dokumentierte, muss man festhalten, dass auch jene gelebt haben, die kein Kino hatten. Dass die überlebenden Bilder uns helfen, aus alten Fehlern zu lernen, erweist sich zudem als naiver Trugschluss. Es wäre interessant herauszufinden, ob aufgrund des Kinos mehr Verbrechen begangen oder verhindert wurden. Der Sinn des Sammelns oder Bewahrens, wie es hochtrabender heißt, liegt in der unablässigen Dokumentation unserer Fehler, aber auch unserer Menschlichkeit. Wir müssen uns beweisen, dass wir gelebt haben und dass wir leben, also müssen wir sammeln.


Wer hört die Einwürfe von Kritikern und Kuratoren?

Der bisweilen entrüstete Korrekturgestus von Kritikern und Kuratoren, die zu Unrecht übersehene Filmschaffende aus dem Hades der Filmgeschichte bergen, ist ein Schrei nach Aufmerksamkeit, den man gleich Sisyphos bis ans Ende der Zeit ausrufen könnte. Er ist sicherlich notwendig in einer lebendigen Kultur, aber er wiederholt sich so oft, dass man fragen muss, ob ihn noch jemand hört. Außerdem ist es paradox, wenn man aus den Archiven heraus die Geschichte überwinden will, enthalten doch die Archive das, was aus der Geschichte geblieben ist.

Was man vielmehr überwinden müsste, sind die festgefahrenen Lesarten der Geschichte. Das geht immer noch am besten, wenn man sich mit der Geschichte befasst. Dafür nimmt sich aber in der Kulturwelt kaum jemand Zeit. Diejenigen, die wirklich mit den Archiven leben, existieren im Elfenbeinturm. Was zum Vorschein kommt, sind oft nur die leichter verdaulichen Häppchen einer eigentlich viel komplexeren Geschichte.

Woran liegt das? Archive hängen an einem Anfang, der im griechischen und somit auch etymologischen Sinn immer auch eine Form der Herrschaft einschließt. Aus den Archiven schöpfen, heißt bestenfalls aus der Geschichte zu lernen; meistens heißt es, von den Herrschenden zu hören. Das soll keineswegs die großartige, idealistische und oftmals aufopferungsvolle Arbeit schmälern, die in Filmarchiven weltweit und auch im Widerstand gegen Regierungen getätigt wird. Die jüngsten Ereignisse im brasilianischen Filmarchiv dienen hier als Beispiel. Aber es existiert ein Abhängigkeitsverhältnis, und das gilt es zu problematisieren.


Die Hoffnungen aufs Digitale sind kurzlebig

Auch die im nur scheinbar unendlichen Möglichkeitsraum des Digitalen aufkeimenden Hoffnungen sind kurzlebig. Bislang liegt nur ein äußerst geringer Anteil der Filmgeschichte digitalisiert vor. Die historisch womöglich interessanteren ephemeren Formen wie Home-Movies verenden dagegen nach und nach auf Dachböden und (deutlich langsamer) in Filmarchiven. Außerdem fehlen den meisten Archiven wirkliche Strategien. Es wird eben gesammelt, was sich anbietet, was einem zufällt. Klar, dass einem eher das in die Hände gerät, was es öfter gibt oder was einem hinterhergetragen wird. Jede Entscheidung für einen Film ist in Zeiten von mangelnden Ressourcen auch eine Entscheidung gegen einen anderen Film!

Jede Entscheidung für einen Film ist eine gegen einen anderen Film: "Saving Brinton" (imago/Everett Collection)
Jede Entscheidung für einen Film ist eine gegen einen anderen Film (© imago/Everett Collection)

Eine gute Digitalisierung kostet nicht viel weniger Geld und Zeit als eine gute analoge Restaurierung, wobei letztere den Vorteil einer längeren Haltbarkeit hat. Zudem sitzen manche Archive auf ihren Filmen wie Hennen auf den Eiern. Sie bewegen sich keinen Zentimeter. Wenn man ihnen zu nahekommt, erlebt man sein blaues Wunder. Wegsperren statt zeigen, langsam sterben statt sich aufzuopfern. Zwischen den offiziellen Sammlern entbrannt vor einem halben Jahrhundert darüber ein philosophischer Konflikt, der sich bis heute festgefahren hat. Die kinointeressierte Bevölkerung, so scheint es, kümmert das nicht, schließlich kommt sie auch auf anderen Wegen zu ihren Bildern.


Das größere Potenzial der individuellen Sammler

Aber auch unter ihnen gibt es Sammler, die individuellen Sammler. Sie sind keine Herrschenden. Auch wenn ihre Unabhängigkeit illusorisch ist, so liegt das größere Potenzial in dieser Gruppe verborgen. Man kann die Filmsammler in verschiedene Gruppen unterteilen. Da gibt es die tatsächlichen Filmsammler, die in ihren Kellern alte Filmrollen aufbewahren. Es gibt die DVD- und Blu-ray-Sammler, die sich für Verpackungsmaterialien und Schnittversionen interessieren. Diese Sammler bleiben oft mainstreamorientiert. Seltenheit wird nicht am Film gemessen, sondern am Speichermedium. Ein besonderes Steelbook ist mehr wert als ein rarer Film.

Die seltsamste Spezies sind die Festplattensammler, die ihren Sammlungsgegenstand vom Objekt getrennt haben. Sie arbeiten mit Files und Pixelauflösungen. Manchmal sterben die Festplatten, dann laden sie sich einfach alles nochmal herunter, wobei sie sich nicht immer daran erinnern können, was sie eigentlich auf der jeweiligen Festplatte gespeichert hatten. Außer der paradoxen Objektlosigkeit ihres Sammlungsgegenstandes unterscheiden sich diese Festplattensammlerinnen auch in Bezug auf den rechtlichen Status ihrer Tätigkeit, denn was sie tun, ist illegal und fügt, zumindest in manchen Fällen, dem Medium ihrer Liebe Schaden zu.


Der Besitz eines Films verändert ihn

Ein Film verändert sich, wenn man glaubt, ihn zu besitzen. Er schreibt sich in die eigene Identität ein und wird Teil einer heimeligen Nähe und persönlichen Wunschwelt. Das wichtigste ethische Argument für das illegale Sammeln von Filmen ist, dass sich Menschen, die sonst keine Möglichkeit haben, bestimmte Filme zu sehen, Zugang zu diesen verschaffen. Dieses Argument erschöpft sich schnell, wenn man an die großen Blockbuster oder an jene Filme denkt, die auf Streamingdiensten angeboten werden. Zudem ist die Notwendigkeit für diesen Zugang geografisch abhängig, das heißt, Filmbegeisterte, die in Berlin leben, haben weniger Gründe, Filme herunterzuladen, als solche, die auf dem Land in Rumänien leben. Das Festplattensammeln macht aber vor allem dort Sinn, wo eine Sammlertätigkeit eigentlich erst interessant wird, nämlich bei den randständigen, unerwünschten, vergessenen, kleinen Filmen, die aus den Distributionskanälen verschwunden sind. Filme, die gar nicht anders existieren denn als Files in der Cloud.

Filmrollen in einem Kreuzberger Keller (imago/Jakob Hoff)
Filmrollen in einem Kreuzberger Keller (© imago/Jakob Hoff)

Während der ersten Welle der Covid-Pandemie sorgte in dieser Hinsicht ein kollektives Projekt mit dem Namen „la loupe“ in den sozialen Netzwerken für Furore. Cinephile aus aller Welt versammelten sich dort, um ebensolche Filme, die keine filmvertriebliche Auswertung (in Frankreich oder auf Festivals) mehr erfahren beziehungsweise nie erfahren haben, untereinander zu teilen. Über 10 000 Mitglieder beteiligten sich an dieser Aktion, die von wichtigen Kinodenkerinnen wie Nicole Brenez als zukunftsgerichtete Cinephilie interpretiert, von Facebook aber als illegal geschlossen wurde. Wie man dazu steht, sei offengelassen; dass diese Gruppe aber eine schon seit Jahren gängige Praxis in einer kollektiveren Form sichtbar machte (inklusive zahlreicher Berichte in der internationalen Presse) und gängige Modi des individuellen oder institutionellen Sammelns hinterfragte, steht außer Zweifel.


Austausch statt Besitz

Hier wurde das Sammeln seinem Wortstamm nach als kollektive Tätigkeit verstanden. Statt Besitz ging es um Austausch. Dieser Austausch sichert das objektlose Fortleben dieser Arbeiten. „La loupe“ und vergleichbare Netzwerke bleiben eine Form von Piraterie; sie beherbergen aber ein quasi utopisches Versprechen, in der sich Filme, wie Jean-Luc Godard es zum Beispiel schon lange fordert, von den Zwängen geistiger Urheberschaft lösen.

Tatsächlich und entgegen sämtlichen ethischen und ästhetischen Einwänden arbeitet ein solches System am besten ohne Körper. Man sammelt also Daten und stellt diese Sammlungen zur freien Verfügung online. Ähnlich agieren auch institutionelle Archive, die ihre Sammlungsinhalte digitalisiert haben und frei verfügbar machen. Ganz nebenbei halten sich die kurzlebigen Files aufgrund ihrer dauernden Vervielfältigung am Leben. Im Gegensatz zu analogen Kopien profitieren sie davon, zu reisen.

Interessant an dieser Sammlungsmethode ist auch, dass sie dem eigentlich für das Sammeln so essenziellen Ordnungstrieb widerspricht. Um die Hierarchien aufzubrechen, bedarf es eines dynamischeren Modells als jenem, das in Namen, Formaten und Jahren denkt. Oftmals bedeutet Sammeln, wie eine stolze Katze mit einer Amsel im Maul herumzustolzieren; hier bedeutete es, wie ein nervöses Eichhörnchen die Nüsse zu verteilen.


Ordnende Systeme sind wichtig

Es stellt sich die Frage, ob nicht gerade im undurchsichtigen Dschungel, in dem man sich heute mit Filmen konfrontiert sieht, ordnende und sorgsam wissenschaftlich kuratierte Systeme nötig sind, um das Kino und seine Geschichte zugänglich zu halten. Wie so oft, braucht es wohl beides. Im besten Fall befruchten sich die beiden Felder, wie sie es wahrscheinlich sowieso schon lange tun, denn kaum eine ernsthafte Filmkuratorin wird heute ohne illegale Kanäle arbeiten. Anders ist die eigentliche Filmgeschichte auch gar nicht zugänglich. Der eigentliche Feind sind die Algorithmen, die etwas ganz anderes sammeln als Filme. Ihnen sollt man sowohl das von Staaten und Institutionen abhängige Archiv als auch illegale Online-Plattformen vorziehen.

Enno Patalas inmitten seiner Schätze (imago/United Archives)
Enno Patalas inmitten seiner Schätze (© imago/United Archives)

Der Drang, zu sammeln, äußert sich schließlich auch in den Listen, die geführt werden. Unzählige Listen über alles, was gesehen wird, finden sich auf Internetseiten. Sie dienen wiederum anderen Systemen, die diese Listen sammeln und daraus Identitätsprofile erstellen. Trotzdem wird weiter gesammelt und angehäuft und übereinandergestapelt, was eigentlich gar nicht da ist. Unzählige Kopien in den Archiven sind nicht spielbar, tausende DVDs in den sauber polierten Hüllen werden von den DVD-Playern nicht mehr gelesen und die Files auf den Festplatten erscheinen nur noch als Pixelsauce oder Fehlermeldung. Wozu das alles? „Erst im Aussterben wird der Sammler begriffen“, schrieb Walter Benjamin.

Bleibt nur die Frage, ob damit das Aussterben des Mediums (dann ist der Sammler ein Held) oder der Menschheit (dann ist er wahrscheinlich nutzlos) gemeint ist.

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