© Leonine ("The Zone of Interest")

Das Verschwinden von Auschwitz

Filme wie „The Zone of Interest“ von Jonathan Glazer, die mit den Mitteln der Fiktion den Holocaust historisch real beschwören, befördern eine Illusionskultur, die das wirkliche Verstehen geradezu verhindert

Veröffentlicht am
13. März 2024
Diskussion

Der Film „The Zone of Interest“ über die Familie des KZ-Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, reiht sich in die Versuche ein, den Holocaust mit den Mitteln des Kinos zu vergegenwärtigen. Bei aller ästhetischen Eigensinnigkeit solcher Fiktionalisierungen erliegt allerdings auch „The Zone of Interest“ dem Dilemma einer solchen Beschäftigung mit den NS-Gräueln: an sie zu erinnern, ohne ihrer sinnlich habhaft werden zu können oder gar zu wollen. Sie befördern eine Illusionskultur, die das Verstehen verhindert und sich nur noch Abstraktes vorstellen kann.



Besuch bei der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Warmer Föhnwind lässt die schneeglänzenden Alpen besonders nah erscheinen. Das Lachen umhergehender Schulgruppen hallt von den Gemäuern, die einst von spanischen Juden unter unmenschlichen Bedingungen zwangserrichtet wurden. Vier ältere Frauen mampfen Sandwiches in einem dafür vorgesehenen Aufenthaltsraum. Man weiß trotzdem, wo man ist; die Schilder weisen den Ort aus, auch wenn sich der Parkplatz nicht von jenen an oberösterreichischen Skiliften unterscheidet.

Der Filmemacher Sergei Loznitsa hat derartige Eindrücke aus verschiedenen Holocaust-Erinnerungsstätten in seinem dokumentarischen Film „Austerlitz“ (2016) aneinandergereiht und sie als Ausdruck seiner Verwunderung kommentarlos im Raum stehen lassen. In den letzten Minuten von Jonathan Glazers fiktionalem Film „The Zone of Interest“, einer auf die Täter gerichteten Studie des Alltags der Familie von Rudolf Höß, dem Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, und seiner Ehefrau Hedwig Höß gibt es eine vergleichbare, in die historische Handlung montierte Sequenz, in der man Museumsarbeiter:innen bei der Instandhaltung des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau sieht: Sie saugen, werkeln und putzen.

Kaffeetratsch im Hause Höß: "The Zone of Interest" (Leonine)
Kaffeetratsch im Hause Höß: "The Zone of Interest" (© Leonine)

Wo Loznitsa sich um die Diskrepanz zwischen den Orten grausamster Verbrechen und dem gegenwärtigen Modus der Erinnerung an diese dreht, geht Glazer noch einen Schritt weiter. Er deutet eine Vergleichbarkeit der maschinellen, hygienisch bemühten Haushaltsarbeit der unmittelbar neben dem KZ lebenden Familie Höß mit der ordentlichen und hygienisch bemühten Bewahrung dieser Orte an.

Wohin der Film damit will, bleibt unklar, aber es ist einer der wenigen wirklich diskussionswürdigen Momente in „The Zone of Interest“. Hier wird einmal nicht nur versucht, keine Fehler in Fragen der Repräsentation zu machen, sondern eine gegenwärtige Position zu finden. Hier entspricht Glazer der Forderung von Imre Kertész, wonach jede Repräsentation der Vernichtungslager immer einen Bezug zu unserem gegenwärtigen Leben aufweisen soll, um zu erkennen, wie ein solches Vernichtungssystem möglich wird. Hier passiert etwas Produktives, das die eigene Auseinandersetzung mit der sogenannten Erinnerung an den Holocaust hinterfragt. Denn was wird hier bewahrt, und aus welchen Gründen muss es auf diese Art bewahrt werden? Der Holzdielenboden der Barracken in Mauthausen jedenfalls ist sauber gewischt, Schilder weisen den Weg.


Nur das Bild steht zur Debatte

Der Rest von „The Zone of Interest“ bemüht sich gerade im Vergleich zum gleichnamigen Roman von Martin Amis, auf dem er angeblich basiert, äußerst sorgfältig um ethische Korrektheit. Man wolle eine Re-Präsentation der Gräueltaten vermeiden, betont Glazer in jedem Interview, wobei er das ausgetüftelte und mit Archivmaterialien arbeitende Tondesign, das genau diese Verbrechen repräsentiert, scheinbar nicht als Teil der Repräsentation versteht. Nur das Bild herrscht, nur das Bild steht zur Debatte. Da widerspricht der Film dem inhaftierten Kapo aus dem Text von Amis, der einmal sagt: „Dieser Bleistift und diese Papierfetzen sind nicht genug. Ich brauche Farben, Klänge - Öl und Orchester. Ich brauche mehr als Sprache.“ Und er passt sich „Son of Saul“ (2015) von László Nemes an, der fragwürdig behauptete, dass eine auf schockierende Effekte zielende Unschärfe aus der Mitte eines repräsentierten Lagers die Unmöglichkeit des Zeigens möglich mache. Der Holocaust als intellektuelles Spielfeld für Menschen, die nur noch auf andere Repräsentationen, nicht aber auf die eigentlichen Ereignisse reagieren. Die Evozierung eines sinnlichen Erlebens des Holocausts ist nicht nur verfehlt, sie krankt daran, dass das Kino ohnehin nicht alle Sinne mit einbeziehen kann. Den von Höß in Nürnberg als „faulen und Übelkeit erregenden Gestank“ beschriebenen Geruchseindruck rund um das "Interessensgebiet" Auschwitz kann man auch mit einigen Einstellungen, in denen Menschen Fenster schließen, nicht wirklich erzählen.

"Son of Saul" von László Nemes (Sony)
"Son of Saul" von László Nemes (© Sony)

Die ethische Sorge ist in der Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen unbedingt notwendig, wirft aber auch die Frage auf: Wozu das alles? Die moralische Standardantwort betont die Notwendigkeit einer sich stetig erneuernden Erinnerung oder beruft sich auf gegenwärtige gesellschaftliche Tendenzen, die ein Aufarbeiten der Geschehnisse für neue Generationen besonders virulent mache. Dass damit aber die wiederkehrende, von Kertész beschworene Stilisierung des Holocaust längst zu einer ebensolchen Produkt-Maschinerie verkommen ist, gehört auch zur Wahrheit. 

Egal ob man sich nun mit „The Zone of Interest“ beschäftigt oder Mauthausen besucht: Man gewinnt den Eindruck einer sich hilflos im Kreis drehenden, bestenfalls gegen die Zeit stemmenden Künstlichkeit, die von kollektiver Erinnerung spricht, mit Begriffen um sich wirft, den Holocaust metaphorisiert, politisch vereinnahmt, narrativiert und ein ganz entscheidendes Dilemma der Beschäftigung mit den Grausamkeiten des Nationalsozialismus und den damit verbundenen Traumata ausspart: Das Verschwinden der Erinnerung.


Ein ontologische Geisterhaftigkeit

In Mauthausen wird dagegen immerhin angekämpft mit historischen Film- und Fotodokumenten und vor allem mit Aufnahmen von Zeitzeug:innen, deren Worte beispielsweise mit einem Audioguide gehört werden können. Fotografien eines Schneespaziergangs zum Vernichtungslager von einem SS-Kommandanten oder Bilder der Fußballmannschaft in Mauthausen finden dabei durchaus Echos in „The Zone of Interest“. Was aus diesen Bildern springt, ist leider oft ein Wissen um deren Bedeutung als generelle Marker einer im Kontext brutaler Verbrechen pervers gelebten Normalität. 

Je länger man in die Gesichter der Nazis auf den Fotos schaut, desto weniger begreift man. Sie sind längst von der Geschichte Besetzte, sie stehen für größere Zusammenhänge. Man könnte sich selbst auf einem dieser Bilder erkennen und darüber erschrecken, aber oft erkennt man gar nichts mehr, nur ein bedeutungsloses Lächeln, eine Haltung, die für etwas steht, das diese Menschen nie begriffen haben. Diese Bilder erlangen nicht die gleiche Bedeutung wie normalerweise Fotografien von Unbekannten, aus denen ein gelebtes Leben spricht. Aus den Bildern von Nazis spricht nur noch grausame Geschichte, irgendwelche Diskurse oder ein Abrufen von Schlagwörtern, das sich stets zu automatisieren droht.

Vielleicht wird Geschichte nachvollziehbarer durch diese Dokumente, aber sie droht doch in ein abgeheftetes, aufgearbeitetes, zitiertes Vergessen eingegliedert zu werden. (Das gilt übrigens nicht für ein in Mauthausen ausgestelltes Fahrrad, auf dem der KZ-Häftling Stanislaw Kudlinski 1945 von Linz nach Polen fuhr. Vielleicht liegt es daran, dass einem Objekt wie dem Fahrrad keine ontologische Geisterhaftigkeit eigen ist, sondern eine Konkretheit, die weniger Repräsentation und mehr Präsenz ist). Auch von der Villa Höß gibt es solche Fotografien, die für den Filmdreh eine Rolle gespielt haben. Man kennt das, was man da sieht, aus anderen NS-Propagandabildern: Die heile Welt der Nazis, Blumen, sauber gekämmte Kinder und Rutschen in den kleinen Swimmingpool. Das mag verstörend sein, erzählt aber letztlich nur von dem Bild, das die Hitlertreuen sich gern von sich selbst gemacht haben.

Heile Nazi-Welt: "The Zone of Interest" (Leonine)
Heile Nazi-Welt: "The Zone of Interest" (© Leonine)

Was aber gilt für Filme? Können wir wirklich sagen, dass ein Film, der heute gedreht wird, noch auf vergleichbare Modi der Erinnerung in seinem Publikum zählen kann wie „Nacht und Nebel“ (1956) von Alain Resnais oder „Der Alltag des Gestapomannes Schmidt“ (1965) von Jerzy Ziarnik? In einem Filmdokument mit dem Titel "Wankostättn", das Karin Berger in den 1990er-Jahren in Wien drehte, sieht man Karl Stojka, der als 12-Jähriger in das KZ Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Er berichtet von seinem Überleben und dem Einfall des Nationalsozialismus in die Welt der Roma:nja und Sinti:zze in Wien. Dieses Dokument ist auch deshalb so bewegend und wichtig, weil es etwas zeigt, was es bald nicht mehr gibt: einen Zeitzeugen, der berichten kann. Das Kino hat hier eine besondere Aufgabe, die man als Bewahrung dieser Zeitzeug:innenschaft bezeichnen kann. 

Das aber ändert nichts daran, dass diejenigen, die diese Bilder sehen, nicht mehr erinnern. Erinnerung ist in diesem Zusammenhang aus deutscher Sicht ohnehin ein fragwürdiger Begriff. Eher geht es doch um ein Nicht-Verdrängen. Der Unterschied mag nicht sehr groß sein, aber er ist entscheidend. Im Nicht-Verdrängen steckt eine mögliche Überwindung, eine moralische Dringlichkeit, ein Besser-Leben, im Erinnern ein Ausgeliefertsein, ein wertfreies Hervorkommen des Vergangenen.


Bilder einer falschen Erinnerung

Richtet sich ein Film wie „The Zone of Interest“ nicht an ein ganz anderes Publikum, eines, dass von den Nazi-Verbrechen nur aus Erzählungen weiß? Auf die bekannte Frage, ob Fiktion überhaupt die richtige Methode ist, um sich dem Holocaust anzunähern, antwortete Amis, dass es im Sinne der Nazis gewesen wäre, Autoren und Lyriker zu vernichten. Es wäre das Recht des Schriftstellers, sich dem zu widersetzen. Diese Fragen werden wieder und wieder diskutiert, aber sie stellen sich noch einmal neu, wenn kaum noch jemand lebt, der oder die das alles erlebt hat oder erleben musste, der oder die dokumentiert werden kann. Dann nämlich bleiben nur Fiktion und das Wiederholen bereits existierender Dokumente. Letztere sind bekanntlich oft von Nazis hergestellt worden, müssen also diesbezüglich erst aufgearbeitet werden.

Fiktion, die sich um Repräsentation bemüht, verfälscht notgedrungen das, was geschah. So entstehen immer mehr Bilder, die sich zu einer falschen Erinnerung zusammensetzen. Der Ausweg ist längst verbaut. Dabei wäre eine sich erneuernde, offene Auseinandersetzung mit der keineswegs verschwindenden Ohnmacht gegenüber den Nazi-Verbrechen möglich. Man könnte sich beispielsweise damit auseinandersetzen, dass man sich eben nicht (mehr) erinnert, dass man trotz eines über Jahrzehnte entstandenen theoretisch-philosophischen Hilfsapparats nicht nachvollziehen kann und dass man bemerkt, wie sich das Vergessen in das, was nicht vergessen werden darf, einnistet. Fiktionale Filme, die sich mit solchen Fragen beschäftigen, gibt es aber nicht. Texte dieser Art gibt es auch kaum.

Höß (Christian Friedel) im Plänen für die Krematorien in Auschwitz II (Leonine)
Höß (Christian Friedel) mit Plänen für die Krematorien in Auschwitz II (© Leonine)

Etwas zugespitzt könnte man vermuten, der Holocaust sei heute vor allem eine Recherche. Vielleicht ist eine Sequenz in „The Zone of Interest“ mit Nahaufnahmen der Blumen aus dem Garten von Hedwig Höß ein Versuch in diese Richtung. Die Leinwand verfärbt sich rot, flimmert unangenehm, und ein dröhnendes Klanginferno der Komponistin Mica Levi drückt bis an den Rand des Unerträglichen. Hier wird so etwas wie ein Gewissen derjenigen, die einen solchen Film machen, sichtbar. Gleichzeitig aber ist es eine ästhetische Lösung, um realen Horror zu zeigen. Das ist aber nicht genug, sondern verpufft als bloßer Effekt.


Eine Frage der Perspektive

Die, die sich besonders laut um die sogenannte Erinnerung bemühen, erinnern sich selbst nur aus zweiter oder dritter Hand. So ergeht es uns ja allen, und daraus erwachsen neue Probleme der Repräsentation. Was „The Zone of Interest“ deutlich zeigt, ist, dass die Erschütterung eine Frage der Perspektive ist. Dass man das Grauen hört, aber nicht sieht, bewirkt ein körperliches Unwohlsein. Auch Schuldgefühle werden wieder belebt, wobei unklar bleibt, zu welchem Zweck. Wäre es nicht sinnvoller, man würde aus dem unbeschreiblichen Grauen lernen, um sich frühzeitig gegen die Mechanismen zu wehren, die es ermöglichen? Wahrscheinlich ist das nicht möglich, ohne zu spüren, dass diese Verbrechen von Menschen, also potenziell von jedem von uns, begangen werden könnten. Gleichzeitig aber ist dies ja gerade die Perspektive, die zu moralischen Schwierigkeiten führt. Die Repräsentation des Holocausts führt aufgrund dieser Widersprüche in eine Sackgasse.

Steht man vor der Gaskammer in Mauthausen, in der im März 1942 die ersten sowjetischen Kriegsgefangenen mit Giftgas hingerichtet und bis zum Ende des Krieges 3500 Menschen getötet wurden - insgesamt kamen in Mauthausen um die 100000 Menschen ums Leben -, sieht man weiße Kacheln, abgeblätterten Putz an den Wänden, schwarze Rohre, es riecht vermodert. Kühle Erdluft kriecht über die Fliesen und… man sieht nichts. Man stellt sich vor, man fühlt sich unwohl. Man kann es sich nicht vorstellen. Dann öffnet man die Tür ins Freie, atmet auf, tritt in einen Hof und bemerkt die Flechten, die auf den Mauern wachsen. Flechten, die mit manchen Steinen (vieles in Mauthausen ist Rekonstruktion, ein seltsames Echo darauf, dass auch die Villa Höß in „The Zone of Interest“ eine Rekonstruktion ist) die letzten wirklichen Zeugen geblieben sind.

Was an einem solchen Ort auffällt, gerade in westlichen Kulturen, die nicht daran gewöhnt sind, Orte mit deren Geschichte zu verbinden, ist das, was der japanische Schriftsteller Shusaku Endo in seinem Roman „Meer und Gift die Gleichgültigkeit der Welt nannte. Die Alpen glänzen auch von diesem Ort aus gesehen in goldenem Föhnlicht. Die Amseln begrüßen den nahenden Frühling mit der gleichen Ausgelassenheit. Wir Menschen verstehen die Erinnerungen der Dinge und Pflanzen nicht. Vom ehemaligen Sanitäts- und Zeltlager in Mauthausen gibt es beispielsweise kaum Spuren. Es sind im Gelände verschwundene Flächen, ähnlich jenen, die man von steinzeitlichen Ausgrabungen kennt. Die wachsende Unsichtbarkeit des Vergangenen, das sich überall unter sich aufeinanderstapelnden Schichten ablegt.


Das Grauen im Alltäglichen erzählen

Der Roman „Meer und Gift“ erzählt von Vivisektionen japanischer Ärzte an US-amerikanischen Soldaten. Endo beschreibt, dass es das Schlimmste sei, dass sich trotz all dieser Taten nichts verändern würde, dass man nichts fühle. Man begehe ein Verbrechen, und alles gehe so weiter wie davor. Was könnte man fühlen? Man bleibt fassungslos oder schlimmstenfalls gleichgültig. Das Gefühl der Gleichgültigkeit ist eines, das über Hannah Arendts Begriff der Banalität des Bösen oft etwas oberflächlich mit den Naziverbrechern verbunden wird, so auch in „The Zone of Interest“. Allerdings betont Hannah Arendt in ihrem Text über den Eichmann-Prozess, dass diese Banalität nicht mit Alltäglichkeit verwechselt werden dürfe.

Glazer, der mit bis zu zehn versteckten Kameras in der nachgebauten Villa Höß drehte, sucht aber genau diese Alltäglichkeit, das Kommen und Gehen im Haus des Kommandeurs, den Small Talk, Intimitäten, Gesten, Handgriffe, kleine, schnell verpflegte Risse in der Normalität. Sein Film kann gar nicht anders, als diese angeblich alltägliche Banalität als Ausweg zu wählen, um zeigen zu können, was er zeigt. Sie ist ein möglicher Ansatzpunkt für das Schauspiel, das Szenenbild, die Kostüme und so weiter. Das mag für manche intellektuell anregend sein, genau wie die auch von Klaus Theweleit beschriebene Pferdeliebe von Höß, führt aber bei Glazer zu keinem Erkenntnisgewinn. Stattdessen multipliziert der Filmemacher auf seine Art den von Höß beim Auschwitz-Prozess wiederholt getätigten Verweis auf die eigene Normalität. Es wird geplaudert, geraucht, gespielt und gelacht. Nein, das ist natürlich nicht normal, und es ist auch nicht banal, und das ist auch nicht das, was Arendt gemeint hat. Glazer lässt seinen Film dementsprechend immer wieder ins Abartige kippen, droht damit aber in dramaturgischer oder filmästhetischer Effekthascherei zu versinken.

Was dann bleibt, ist wieder nur eine Metapher, die man deuten kann, wie man möchte. Sie beinhaltet eine Empörung darüber, dass man hinter einer Mauer lebt und so tut, als gäbe es die andere Seite nicht. Das mag durchaus belehrend sein, lässt aber die von Arendt beschriebene Realitätsferne der Täter, die viel stärker mit vergleichbaren Zuständen zu tun hat, in die Abstraktion einer visuellen Faszination gleiten.

Christian Riedel als Rudolf Höß (Leonine)
Christian Friedel als Rudolf Höß (© Leonine)

Ein Produkt der Illusionskultur

Das wiederum führt zurück zu der eingangs beschriebenen Szene, in der Glazer Bilder aus Oświęcim von heute zeigt. Sein Team ist nicht für diese Bilder allein angereist. Der ganze Film, inklusive des nachgebildeten Hauses, entstand auf dem Gelände des ehemaligen Interessengebiets. Man fragt sich, weshalb die Filmemacher sich solche Mühe geben, eine Illusion zu errichten, wenn die sie umgebende Wirklichkeit gerade im Dialog mit der Fiktion viel mehr sagen könnte. In Ruth Beckermanns „Die papierene Brücke gibt es eine Sequenz, in der jüdische Menschen als Komparsen Inhaftierte des Konzentrationslagers Theresienstadt spielen. Den Irrsinn einer solchen Repräsentation fängt Beckermann auf, indem sie mit den bisweilen traumatisierten Statisten im Aufenthaltsraum spricht. Solche etwas sichtbar machenden Ansätze leuchten im Schwall jener Repräsentationsfilme, die sich solche Fragen kaum stellen, meist nur kurz auf. Man fragt sich, weshalb es in „The Zone of Interest“ nicht mehr von diesen Verfremdungseffekten gibt, warum die Schauspieler beispielsweise vor digital ins Bild gesetzten Schornsteinen spielen, statt vor den Überresten, die es davon noch oder nicht gibt.

Die Antwort liegt auf der Hand, wenn man einige Tage nach Sehen des Films vor der Mauer von Mauthausen steht: Weil der Holocaust längst, wie von Kertész befürchtet, ein Produkt der Illusionskultur geworden ist, einer Kultur also, die das Verstehen, Sehen und Fühlen verhindert und die sich nur noch Abstraktes vorstellen kann auf der anderen Seite der Mauer. Eine Erinnerungstafel vielleicht, eine Szene aus einem Film, ein Satz aus einem Buch, und dann erwacht man schweißgebadet um vier Uhr morgens und versteht nicht, warum man sich so elend fühlt.

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