© IMAGO / Everett Collection („Der wunderbare Garten der Bella Brown“)

Zum Tode von Tom Wilkinson (5.2.1948-30.12.2023)

Ein Nachruf auf den britischen Schauspieler

Veröffentlicht am
12. Februar 2024
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Der britische Bühnendarsteller Tom Wilkinson wurde im mittleren Alter ein hochbegehrter Charaktermime im Kino, der nach seinem Auftritt als Amateur-Stripper in „Ganz oder gar nicht“ 25 Jahre lang in zahlreichen Filmrollen glänzen durfte. Zuverlässig und vielseitig füllte er autoritäre Charaktere ebenso aus wie Sympathieträger und glänzte besonders dort, wo vermeintlich gefestigte Männer vor den Augen der Zuschauer von Schicksalsschlägen aus dem Gleichgewicht gebracht wurden.


Die Gartenzwerge bringen das Fass zum Überlaufen. Eben noch hat der frühere Bergmann Gerald sein Glück kaum fassen können, sich sechs Monate nach dem beruflichen Aus in einem Vorstellungsgespräch zu befinden, als ihn ein frecher Streich hinter dem Rücken seiner Gesprächspartner aus dem Konzept bringt. Gartenzwerge, die sichtbar aus seinem eigenen Garten entwendet wurden, werden für alberne Späße missbraucht, und der nervöse Gerald sieht sich seiner Konzentration beraubt und damit womöglich jeder Chance, wieder Arbeit zu finden. Wer hinter der Gartenzwerg-Attacke steckt, ist ihm und auch den Zuschauern von „Ganz oder gar nicht“ natürlich völlig klar: Seine beiden ehemaligen Kollegen Gaz und Dave, deren Vorarbeiter Gerald war und die ihn mit ihrer absurden Idee, als Laien-Stripgruppe Geld zu machen, genervt haben. Gleichwohl gibt Gerald nach dem fälligen Wutausbruch gegenüber den zweien klein bei, schließt sich der Gruppe an und stimmt widerstrebend auch zu, mit den anderen bei dem erstrebten Auftritt völlig blank zu ziehen. Deutlich ist zu sehen: Geralds Vorstellungen von Würde sind bis ins Mark erschüttert worden, seine Persönlichkeit braucht diese Form der völligen Neuordnung womöglich, um weiterexistieren zu können.


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Brüche hinter gediegenen Fassaden

Gerald Cooper ist in vielem prägend für die Rollen, mit denen ihr Darsteller Tom Wilkinson in den Jahren nach dem britischen Überraschungshit von 1997 am meisten assoziiert wurde: Ältere Männer, gekennzeichnet durch ein körperlich ausgedrücktes Bewusstsein von Autorität, das auf Alter, Stellung und Geld gründet, aber nicht gefeit ist vor seelischen Erschütterungen, die dieses Auftreten in Frage stellen. Der aus dem nordenglischen Leeds stammende Tom Wilkinson ist schon fast 50, als er sich mit „Ganz oder gar nicht“ einen Platz im internationalen Kino erobert, den er über mehr als zwei Jahrzehnte behaupten wird. Zuvor hat sich Wilkinson einen respektablen Ruf im Theater erarbeitet (Erfolge auf Londoner Bühnen sind etwa Horatio in „Hamlet“ und Dr. Stockmann in „Ein Volksfeind“, beides Idealisten, die auf ernüchternde Realitäten prallen), viele Fernsehauftritte hinter sich gebracht und in einigen Filmen wie „Wetherby“ oder „Im Namen des Vaters“ neben renommierten Kollegen achtbare Kurzauftritte geboten.

Vom Bergarbeiter-Vormann zum Laien-Stripper: Tom Wilkinson in „Ganz oder gar nicht“ (© Imago/Allstar)
Vom Bergarbeiter-Vormann zum Laien-Stripper: Tom Wilkinson (rechts) in „Ganz oder gar nicht“ (© Imago/Allstar)

1994 glänzt er als Dickens-Schurke Pecksniff im Fernseh-Mehrteiler „Martin Chuzzlewit“ und zeigt in Antonias Birds Spielfilm „Der Priester“ mit dem Schlüsselpart eines bodenständigen katholischen Geistlichen, der insgeheim mit seiner Haushälterin zusammenlebt, bereits, was zur hohen Qualität seiner Leinwandkarriere werden wird: Seine Figuren balancieren oft auf dem Grat zwischen einem selbstsicheren bis überheblichen ersten Eindruck und überraschenden Charakterenthüllungen, die bemerkenswerte Nuancen freilegen.


Ein später Leinwand-Karrierefrühling

Nicht immer haben die Drehbücher auf Tom Wilkinsons spezielle Gabe Rücksicht genommen, sodass sich unter seinen Filmaufgaben auch viele Schurken ohne sonderliche Schnörkel finden, vordergründige Bösewichte mit schneidender Stimme und harten Augen, wie sie im Actionkino à la „Rush Hour“ auftauchen oder im kolonialen Rahmen wie bei „Der Geist und die Dunkelheit“. Es sind Auftritte, die sich immer ein wenig wie verpasste Chancen anfühlen, weil offensichtlich ist, dass ihr Darsteller so viel mehr zeigen könnte, wenn das Ausgangsmaterial es zuließe; dennoch liegen auch in ihnen Reize, und sei es nur im Vergleich mit anderen Rollen von gänzlich entgegengesetzter Ausrichtung. Mit gleicher Selbstverständlichkeit ist Tom Wilkinson etwa in zwei Filmen über Oscar Wilde in völlig unterschiedlicher Form dabei: 1997 ist er in „Wilde“ der Marquess of Queensberry, der zum Verderben des Dichters wird, 2018 spielt er hingegen in „The Happy Prince“ einen Priester, der mit großer Sympathie dem sterbenden Wilde beisteht – charakterlich liegen sie ähnlich auseinander wie der Nazi-General Friedrich Fromm in „Operation Walküre“ und der israelische Nazijäger in „Eine offene Rechnung“.

Logische Folge dieser Vielseitigkeit war das hohe Ansehen, das sich Tom Wilkinson rasch bei Kino-Schauspielkollegen und Filmemachern erwarb und ihm seinen späten Leinwand-Karrierefrühling bescherte, neben seiner Zuverlässigkeit und dem Mangel an Eitelkeit. Der große, aber oft etwas gebeugt auftretende Mime blieb auf faszinierende Weise schwer klassifizierbar: ein alltäglicher Typ, der zugleich voller Charisma steckte, oft mit Brille und mehr oder weniger gut sitzendem Anzug, mal tapsig wie ein freundlicher Bär oder behäbig wirkend, aber immer wendig und nicht zu unterschätzen. Der Effekt von Wilkinsons Spiel nahm umso mehr zu, wenn man zusehen konnte, wie die souveräne Aura seiner Figuren Risse bekam.

Prägnant war Wilkinson auch in Kurzauftritten wie in „Der Ghostwriter“ (© IMAGO / ZUMA Wire)
Prägnant war Wilkinson auch in Kurzauftritten wie in „Der Ghostwriter“ (© IMAGO / ZUMA Wire)

„Oscar“-würdig: Die Hauptrolle in „In the Bedroom“

Sein kurzer Auftritt als alter Freund des ehemaligen britischen Premierministers in „Der Ghostwriter“ ist so ein Fall, bei dem er unter den bohrenden Fragen von Ewan McGregors Autor die Nonchalance verliert, aber auch eine seine wenigen Hauptrollen, der amerikanische Kleinstadt-Arzt in „In the Bedroom“. Ein allseits geschätzter Bürger, der nach dem Totschlag an seinem Sohn in eine wochenlange Schockstarre verfällt, aus der ihn erst ein emotionaler Ausbruch seiner gleichfalls verstörten Frau herausreißt. Dieser und eine kleine, aber entscheidende Lüge treiben ihn zur eigenmächtigen Bestrafung des Täters, ein Akt der Selbstjustiz, den Wilkinson aber zu keiner Zeit als befreiend oder erleichternd ausgibt, sondern durchweg als Verzweiflungstat begreifbar macht. Dass ihm für diese darstellerische Meisterleistung der „Oscar“ verwehrt wurde, bleibt eine der bedauerlichsten Entscheidungen in der Geschichte des Filmpreises.

Scheinbar mühelos bringt Tom Wilkinson selbst herbe Kontraste in seinen Figuren unter: Wunderbar ist etwa sein Facettenreichtum in „Shakespeare in Love“, der ihn als mafiaartigen Geldverleiher im Elisabethanischen Zeitalter einführt, den insgeheim aber eine glühende Verehrung für das Theater prägt, die sich erstmals im ehrfürchtigen Verstummen angesichts des Bühnenstars Ned Alleyn offenbart. Später spiegelt sich in dem beflissenen Eifer, den er in seine Minirolle eines Apothekers in der „Romeo und Julia“-Aufführung legt, der ganze Zauber der Bühnenwelt. Aus dem vermeintlichen Filmschurken ist eine sympathische Figur mit anrührenden Zügen geworden. Vergleichbar überwältigend vielschichtig war Wilkinson auch in dem ungewöhnlichen Justizthriller „Michael Clayton“ als bipolarer Anwalt Arthur Edens, der unter der Last seiner beruflichen Schützenhilfe für verbrecherische Firmen regelrecht zerbricht. In einem Moment wirkt er labil und geistig abwesend, im nächsten blitzt im Streit mit der von George Clooney gespielten Titelfigur, die Edens zur Raison bringen soll, der brillante Jurist durch, wieder einen Augenblick später liegt er zusammengekauert und ängstlich in Unterwäsche in einem Hotelbett und findet Trost darin, dass Claytons kleiner Sohn ihm übers Telefon von seinem Lieblings-Fantasybuch erzählt.

Mit Sissy Spacek in „In the Bedroom“ (© Universal)
Mit Sissy Spacek in „In the Bedroom“ (© Universal)

Ob als ins Wanken geratener Riese oder zerrissener Biedermann, sympathischer, zwiespältiger oder bedrohlicher Vertreter jeden denkbaren Standes und Milieus – Eindruck hinterließ Wilkinson eigentlich immer, unabhängig von der Größe seiner Rolle. Rund 70 Kinofilme drehte er allein zwischen 1995 und 2021, ergänzt um denkwürdige Fernsehfilm- und Miniserien-Parts wie als Transmann in „Eine Frage der Liebe“, Benjamin Franklin in „John Adams“ und Politikerclan-Patriarch in „Die Kennedys“. Am Ende stand noch einmal Gerald Cooper in der Serien-Fortschreibung von „Ganz oder gar nicht“ (2023) mit dem Rest der alten Besetzung, eine schauspielerisch würdige Rückkehr zu den Wurzeln der erfolgreichen Kinokarriere. Am 30. Dezember 2023 starb Tom Wilkinson im Kreise seiner Familie in London.

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