© Pandora (aus „Fallende Blätter“)

Pastiche und Proletariat - Die Welt von Aki Kaurismäki

Über die Filme des finnischen Regisseurs Aki Kaurismäki und seine humanistische Sicht auf die Absurdität des Seins

Veröffentlicht am
18. Oktober 2023
Diskussion

Der finnische Regisseur Aki Kaurismäki erschafft in seinen Filmen seit vierzig Jahren eine ganz eigene Welt. Unmittelbar erkennbar ist sie an seinen gedemütigten, einsamen Figuren aus der Arbeiterklasse, der Lakonie und der Musik, aber auch an der Sehnsucht nach Romantik und einem besseren Leben. Und an einem unbedingten Optimismus, der bei Kaurismäki weder aufgesetzt noch pathetisch wirkt, sondern vielmehr logischer Ausdruck des Widerstands gegen menschliche Erniedrigung ist.


„Das Leben ist unerträglich ohne Humor. Es ist auch mit Humor unerträglich.“

(Aki Kaurismäki)


In der spärlich eingerichteten Küche brät eine Frau Spiegelei mit Speck. Sonst isst sie nur Tomaten auf weißem Brot. Ihre Augen sind leer; sie starren erschöpft auf das brutzelnde Fett in der Pfanne. Sie dreht ihr aus der Zeit gefallenes Radio auf, ein finnischer Blues klagt darin mit Zeilen, die ihrem Leben entspringen könnten. Auf der Eckbank hinter ihr sitzt ein melancholisch dreinschauender Mann. Er dreht sich eine Zigarette, sagt nichts. Manchmal schielt er zur Frau hin. Zigarettenrauch hing schon in der Luft, bevor er zu sehen war. Zu seinen Füßen ein leise winselnder Hund. Er blickt noch melancholischer drein. Alle scheinen für sich zu leiden, aber dennoch entsteht etwas Zärtliches zwischen ihnen; man kann es Sehnsucht nennen oder auch ein romantisches Bestreben, füreinander da zu sein.

Diese Bilder kennt man seit mittlerweile vierzig Jahren aus den Filmen des finnischen Filmemachers Aki Kaurismäki. Es fällt leicht, einige Schlagworte aufzuzählen, die dieses Kino beseelen: Lakonie, Musik, Einsamkeit, Arbeit, Minimalismus, Anachronismen, Romantik. Was die Arbeiten zusammenhält, auch in ihrer raren Kohärenz über all diese Zeit, ist das Bestreben nach Würde. In einer Zeit, in der Filme oft von oben herab auf ihre Subjekte blicken und Menschen in der Tagespolitik unablässig auf Zahlen oder politische Gruppen reduziert werden, beharrt Kaurismäki stoisch und bisweilen mürrisch auf dem Guten im Menschen. In seinen Werken gibt es weder eine Unterscheidung zwischen rechts und links noch zwischen falsch und richtig in Bezug auf die Handlungen der Menschen. Sein Kino urteilt nicht, es zeigt, was es liebt.


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Errettung der an den Rand gedrängten Menschlichkeit

Kaurismäkis Landsmann und Mentor, der große Kinodenker Peter von Bagh, formulierte einmal, dass Kaurismäkis Bilder gegen den in Skandinavien so florierenden Neoliberalismus gerichtet seien. Es stimmt, dass das gemeinsame Bestreben seiner Filme nichts Geringeres ist als die Errettung der an den Rand gedrängten Menschlichkeit in Systemen, die diese unterdrücken. Kaurismäkis Filme existieren an den Grenzen der Bilder, die eine Gesellschaft von sich produziert oder die sie eigentlich produzieren könnte. Er balanciert auf dieser Grenze, weil seine Bilder mit ihren einfachen Farbgebungen und der ausgestellten Ästhetisierung durchaus kompatibel sind mit Instagram; die Welten aber, die bei Kaurismäki aufscheinen, hingegen eben nicht. Dort, wo sich eine Gesellschaft in ethisch vertretbaren Normen verliert, feiert Kaurismäki die Schamlosigkeit. Dort, wo nur den geschniegelten Wohlsituierten zugetraut wird, eine Liebesgeschichte zu tragen, erzählt sie Kaurismäki zwischen Betrunkenen und Herumstreichern. Und wo es keine Bilder von Armut geben darf, zeigt Kaurismäki die verzweifelte Kargheit eines Lebens. Wo das Klischee keinen Humor verträgt, regiert bei Kaurismäki die Absurdität des Seins.

Aki Kaurismäki (© Pandora)
Aki Kaurismäki (© Pandora)

Von seinem Regiedebüt, der Dostojewski-Verfilmung „Crime and Punishment“ (1983), bis zu seinem jüngsten Werk „Fallende Blätter interessiert sich Kaurismäki für die Außenseiterinnen und Gedemütigten. Er zeigt diejenigen, die von der Gesellschaft und vom Diskurs vergessen werden. Kaum einmal zeigt er diejenigen, die unterdrücken; wenn er es tut, dann sind sie, wie die unterschiedlichen Chefs in „Schatten im Paradies“ (1986), auch Opfer des Systems; sie handeln niederträchtig, weil sie dazu gezwungen werden. Also verstricken sie sich in illegalen Machenschaften oder agieren rücksichtslos, um selbst zu überleben. Getrunken, gestohlen und gehasst wird, weil man sich nicht anders zu helfen weiß.

Verbrechen spielen ohnehin eine große Rolle in den Filmen von Kaurismäki. In seinem humanistischen Ansatz, der die Welt nicht einfach in Gesetz und Gesetzesbruch trennen kann, ist Kaurismäki ein Nachfolger des italienischen Neorealismus, nur dass das moralische Gewicht der Sünde sich bei ihm in ein machtloses Schulterzucken auflöst. Filme wie „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ (1989) oder „Der Mann ohne Vergangenheit“ (2002) sind Parabeln ohne aufgesetzte Moral. Wenn es eine Moral gibt, dann die, dass man lieben soll. Aber Kaurismäki zeigt auch, wie schwer das ist. Die moralische Konsequenz würde eine gewisse Selbstbestimmung voraussetzen, aber die ist seinen Protagonistinnen selten gegeben. Darin liegt das Politische, das Unzufriedene bei Kaurismäki und seinen Porträts der Arbeiterklasse. Seine Helden sind einsam und wortkarg.


Einen Stein zum Weinen bringen

Wiederholt interessiert sich der Filmemacher für ähnliche Typen und Figurenkonstellationen: der einsame Arbeiter, die Arbeitslose, die Reisenden, der beste Freund des Arbeiters, der Boss der Arbeiterin. Viele seiner Filme beginnen mit Bildern der Arbeit. In „Fallende Blätter“ zeigt der Filmemacher in wenigen, präzise montierten Bildern, was es bedeutet, in einem Supermarkt zu arbeiten. Man hält es kaum aus. In den vergangenen Jahren wurden viele Debatten über Systemerhalterinnen geführt. Es ging um Bezahlung und Wahrnehmung. Manchmal wünschte man sich, Politiker müssten sich jeden Tag einen Kaurismäki-Film ansehen.

Kaurismäkis Figuren (hier: „Die andere Seite der Hoffnung“) sind stets Außenseiter der Gesellschaft (© Pandora)
Kaurismäkis Figuren sind stets Außenseiter: „Die andere Seite der Hoffnung“ (© Pandora)

Es erklärt sich von selbst, dass sich Kaurismäki in Filmen wie „Die andere Seite der Hoffnung“ (2017) inzwischen auch mit Migranten und Flüchtenden beschäftigt. Da er mit einfachen und effektiven generischen Narrationen arbeitet, könnten sie, wie es Orson Welles einmal über den Film „Kein Platz für Eltern“ von Leo McCarey formulierte, einen Stein zum Weinen bringen. Fast jede Szene in diesem Oeuvre erzählt von einem Scheitern, jedes Konzert, jeder Kuss, jeder Spaziergang entspringt einer Welt, in der eigentlich schon alles vorbei ist und gerade deshalb nochmal alles möglich wird.

Die Unbeholfenheit der Figuren führt nie ins Lächerliche, auch wenn man über sie lachen muss. So bleiben Männer, wie Kaurismäkis verstorbener Stammschauspieler Matti Pellonpää, oft regungslos stehen, weil sie keinen Tunnel in sich finden, der die Gefühle mit Worten oder Taten verbindet. „Wolken ziehen vorüber (1996) kann als großer Film über die Unmöglichkeit, Gefühle auszusprechen, betrachtet werden. Aber das gilt eigentlich für fast alle Filme des Regisseurs. Kein Wunder, dass Kaurismäki in „Vertrag mit meinem Killer“ (1990) oder „Das Leben der Bohème“ (1991) auch mit Jean-Pierre Léaud arbeitete, schließlich versteht der es mit seiner ikonischen Verlorenheit wie kaum ein Zweiter, das Zögern und Hadern in pures Kino zu verwandeln. Die Komik bei Kaurismäki bricht einem das Herz. Sie entsteht aus Verzweiflung.

Noch absurder verhält es sich bei „Calamari Union (1985) oder in den „Leningrad Cowboys“-Filmen. In Untergrundorganisationen, in denen alle Frank heißen, oder in sibirischen Rockbands mit Hornfrisur-Fetisch fühlt man sich gelegentlich mehr an Helge Schneider erinnert als an Mikio Naruse. Wobei noch zu betrachten wäre, wie nahe sich Schneider und Naruse sind. Dass Kaurismäki auf solche augenzwinkernd-nerdigen Vergleiche Lust hat, zeigt er in „Fallende Blätter“, in dem er zwei Cineasten nach einer Filmvorführung von „The Dead Don’t Die“ von Jim Jarmusch, einem Freund des Filmemachers, der auch einen Gastauftritt in „Leningrad Cowboys Go America“ (1989) hat, diesen mit Robert Bresson vergleichen.

„Vertrag mit meinem Killer“ nutzt Jean-Pierre Léauds Aura der Verlorenheit (© Pandora)
„Vertrag mit meinem Killer“ nutzt Jean-Pierre Léauds Aura der Verlorenheit (© Pandora)

Jedes Bild will Kino sein

Der Geschmack der fast ausschließlich von Kameramann Timo Salminen gefilmten Filme, oft in Farbe, manchmal aber auch in kontrastreichem Schwarz-weiß, ist der einer Hafenkneipe um vier Uhr am Morgen. Die Musik ist meist besser, aber die Stimmung nicht. Das Szenenbild strotzt nur so vor Anachronismen und Pastiche. Kaurismäki drehte mit „Juha“ (1999) nicht zufällig einen Stummfilm; seine Arbeit orientiert sich immer auch an der Filmgeschichte. Seine Filme kommen nach dem Kino, aber sie sehnen sich zurück ins Kino. Jedes Bild will Kino sein, so sehr, dass dahinter der Realismus, der moralische Auftrag zu verschwinden droht, aber nicht, wenn man diesen Auftrag als jenen des Kinos per se versteht: Ein Kino, so möchte man nostalgisch sagen, das noch gut war, das noch was wollte vom Leben.

Daran mögen sich die Geister scheiden, aber die Konsequenz, mit der Kaurismäki seine Nostalgie verteidigt, übersetzt sie in eine große Notwendigkeit. Selbstredend will Kaurismäki weniger vom Kino als seine Vorbilder wie Ozu oder Lubitsch, weil er eben nach ihnen kommt und auf sie Bezug nimmt. Aber das entlarvt den angeblichen Traditionalisten nur als Modernisten. Er vertritt die seltener werdende Position, dass das Kino eine Sprache ist, die sich abhebt von anderen Bewegtbildformen.

Von Bagh schreibt in Bezug auf die Kaurismäki-Welten vom „Kaurismäkiland“. Es ist sicher richtig, dass Kaurismäki gegen das Kommodifizierte eine Art eigene Kommodifizierung entwickelt hat. Dazu passt auch, dass sich das Kaurismäkiland des dazu so gar nicht passend in Portugal lebenden Filmemachers längst auch auf den Besitz von Restaurants und Bars in Helsinki ausgeweitet hat. In seiner Poolhalle hängt ein Poster von Bressons „Das Geld“. Es ist das Kaurismäki-Universum; man könnte wohl einfach in diesen Filmen leben, auch wenn das nicht gesund wäre. Kaurismäki scheut auch nicht vor einer gewissen Gefälligkeit in den Bildern zurück, selbst wenn sie Armut und Leid zeigen. Das passt zu seinen Protagonisten, die stets ihre eigenen Prinzipien suchen, um sich von der Gesellschaft zu unterscheiden. Das alles führt dazu, dass sich Kaurismäki gleichermaßen für die Säulenhallen der Cinephilie wie für Sonntagvormittag-Matineen eignet. Alles hängt davon ab, von welcher Seite man es betrachtet.

Auch „Fallende Blätter“ betont die nostalgische Liebe zum Kino (© Pandora)
Auch „Fallende Blätter“ betont die nostalgische Liebe zum Kino (© Pandora)

Schweigsame Menschenliebe

Ein Wort noch zu den Hunden in den Filmen von Kaurismäki, die mehr als nur vierbeinige Statisten sind. In ihnen findet Kaurismäki die Verkörperung der schweigsamen Menschenliebe, die sich durch alle seine Filme zieht. Hunde bleiben bei den Unterdrückten, sie sind es gewissermaßen selbst. Wer Hunde kennt oder viele Filme sieht, weiß, dass sie stets mehr wissen als die Menschen. Während sie uns beobachten, erkennen sie die Tragweite einer Tragik, die uns noch gar nicht bewusst ist. Sie erahnen das Unheil, bevor es geschieht. Es ist kein Zufall, dass Kaurismäkis Hamlet-Verfilmung, „Hamlet goes Business“ (1987) mit der Aufnahme eines Hundes beginnt. Shakespeares Frage nach dem „Wer ist da?“ wird in die Neugier eines Hundes übersetzt, für den die Frage nach dem Wer lebensentscheidend ist.

Die Hunde in den Filmen stammen übrigens in vielen Fällen aus der gleichen Familie. Paju aus Lichter der Vorstadt“ (2006) ist die Urenkelin von Laika aus „Das Leben der Bohème und die Enkelin von Piitu aus „Juha“. Tähti, Pajus Mutter, wurde in Cannes 2002 als beste Hundedarstellerin ausgezeichnet für ihre Arbeit an „Der Mann ohne Vergangenheit“. Laika, Tochter von Paju, benannt nach ihrer entfernten Vorfahrin, spielte in „Le Havre“ (2011). Auch so lässt sich Filmgeschichte schreiben.

Man sagt Kaurismäkis Arbeiten nach, dass sie sich bewusst mit der finnischen Lebensart auseinandersetzen. Das mag bisweilen stimmen, aber längst hat sich diese Lebensart auf ganz Europa ausgeweitet. Der Bezug aufs Finnische hängt auch mit der filmischen Bescheidenheit des Filmemachers zusammen, der Dante, Shakespeare oder Dostojewski so verfilmt, als wären das lokale Schriftsteller, die jeden Abend ein paar Zeilen in der Karaoke-Bar aufschreiben. Auch das ist Kaurismäki: ein Dante in der Verkleidung eines Gescheiterten.

Auch Hunde (wie in „Wolken ziehen vorüber“) gehören zur Kaurismäki-Welt fest dazu (© IMAGO / United Archives)
Auch Hunde gehören fest zur Kaurismäki-Welt:  „Wolken ziehen vorüber“ (© IMAGO/United Archives)

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