© imago/Mary Evans (Jamie Bell in "Billy Elliot - I Will Dance")

#ichsehewas: Ronja, Billy & Co.

Die dritte Ausgabe von #ichsehewas widmet sich Filmen, auf die Pädagogen und Filmemacher, aber auch das Publikum immer wieder Bezug nimmt, wenn es um außergewöhnliche Werke für Kinder und Jugendliche geht

Veröffentlicht am
13. Oktober 2022
Diskussion

Wenn man an außergewöhnliche Kinderfilme denkt, auf die immer wieder Bezug genommen wird, kommen einem Klassiker wie „Ronja Räubertocher“ oder „Billy Elliot – I Will Dance“ in den Sinn, aber auch Mainstream-Filme wie die „Harry Potter“-Filme und sogar deutsche Produktionen, etwa die „Rico und Oskar“-Reihe. Warum das so ist, was diese Filme so wichtig macht, aber auch welche unbewussten Muster sie bedienen, will die dritte Ausgabe von „#ichsehewas“ ergründen, die sich um die sogenannten „Referenz-Kinderfilme“ dreht und zu erklären versucht, was deren Kern ausmacht.


Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Doch neben dem lustvollen Disput über nahezu jeden Film gibt es immer wieder Werke, die bei Publikum wie Kritik gleichermaßen auf ehrfurchtsvolle Zustimmung stoßen. Auf sie kommt man in den unterschiedlichsten Diskursen immer wieder zurück, etwa wenn man über außergewöhnliche oder exemplarische Meilensteine spricht, die ein Genre definieren oder die zum Bezugspunkt für künftige Entwicklungen werden. Solche „Referenzfilme“ gibt es auch im Bereich des Kinderfilms, die sich über die Jahre hinweg als singuläre Größen herauskristallisieren. Filme wie etwa „Ronja Räubertochter“ oder „Billy Elliot – IWill Dance“, aber etwa auch die „Harry Potter“-Blockbuster oder die „Rico und Oskar“-Reihe. Ihnen allen ist gemein, dass sie weit über das jeweilige Werk hinausstrahlen. Was macht diese Filme so besonders, was definiert ihre Qualität als langjährige Orientierungsmarken? Und was verraten die Filme über ihre Zeit, in der sie entstanden sind und das Herz des Publikums eroberten?

Die dritte Ausgabe von #ichsehewas, einer Initiative von filmdienst.de und dem Kinder- und Jugend-Filmportal, geht solchen Fragen nach und versammelt eine Handvoll Artikel und beispielhafte „Referenz-Kinderfilme“, die den Blick auf das, was Kinderfilme sind oder sein können, nachhaltig beeinflusst haben.


Jungs müssen nicht Boxen

In einem einführenden Essay betrachtet Christian Exner „Kinderfilme, die Geschichte schrieben. Klassiker auf den ersten Blick und Botschafter ihrer Zeit auf den zweiten“. Anhand der Geschichte von „Billy Elliot – I Will Dance“, den Stephen Daldry im Jahr 2000 inszenierte, arbeitet er beispielhaft heraus, wie sich darin die Folgen der neoliberalen Thatcher-Politik in England mit den allmählich einsetzenden Gender-Debatten überkreuzen und in dem jungen Tanzenthusiasten eine paradigmatische Figur finden, die alle Erwartungen an zeitgenössische Rollenmuster von Jungen sprengt. „Billy, der Junge, der sich keinen Deut um Rollenerwartungen schert und konsequent seinen eigenen Vorlieben folgt: Er steht für die persönliche Freiheit in einer modernen Identitätsentwicklung. Nur weil er das Leben eines Arbeiterjungen führt, muss er nicht automatisch den klassischen Männersport Boxen betreiben.“

Pubertät, sinnbildlich: "Alles steht Kopf" (Disney)
Pubertät, sinnbildlich: "Alles steht Kopf" (© Disney)


Exner zeigt auf, wie besonders gelungene Filme ihrer Zeit immer ein wenig voraus sind und Themen zur Sprache bringen, die in der Gesellschaft einen immer größeren Raum einnehmen, von der Girl Power einer Ronja Räubertochter bis zu Achtsamkeit und Empowerment in „Alles steht Kopf“ (2015) als dem herausragendsten Beispiel des Pixar-Universums. Der Film von Pete Docter spielt nicht nur durch, was in der vermeintlich chaotischen Psyche von Pubertierenden passiert, sondern lädt beiläufig auch zur Selbstreflexion ein und deutet auf die hippen Lifestyle-Themen der Selbstoptimierer voraus.

Was diese „Botschafter ihrer Zeit“ über die aktuellste Gegenwart verraten, die Exner mit „Das Blubbern von Glück“ und „Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess“ auch mit jüngsten Filmen anspielt, bleibt notwendigerweise vage. Zwar geht es darin um gerade „angesagte“ Themen wie Diversität, ironische Heldenbilder, Selbstinszenierung und neue Familienkonstellationen, doch die „Zeitenwende“ des Krieges in der Ukraine führt gerade schmerzhaft vor Augen, wie schnell viele Antworten, was die Gegenwart im Kern bestimmt, ihre Relevanz verlieren.


Erdacht, erträumt, erspürt

Auch die Drehbuchautorin Beate Völcker geht der Frage nach, was einen guten Kinderfilm ausmacht, der sich über Jahre hinweg im Diskurs behaupten kann. In ihrem Beitrag „Nur Mut!“ lotet sie die dramaturgischen Geheimnisse von Filmen generell und insbesondere von solchen aus, die sich an jüngere Zuschauer wenden. Selbstredend kommt sie dabei keinem Rezept auf die Spur, wie man ein tolles Drehbuch schreiben könnte. „Jede Geschichte will tief erdacht, erträumt und erspürt werden und ihre eigene Form finden“, schreibt Völcker. Kinderfilme zeichnen sich dabei vor allem durch zwei Merkmale aus: dass sie Geschichten von Kindern und für Kinder erzählen.

Wachsen und Entwicklung sind zentrale Begriffe, wenn man über Kinder und kindliche Hauptfiguren nachdenkt. Denn: Kinder wollen „groß“ werden, die Welt um sich herum entdecken und begreifen, den eigenen Platz finden und sich selbst verstehen. Bei all dem spielt vor allem Mut eine wichtige Rolle: der Mut, Stoffe nicht allzu oberflächlich zu erzählen, nur weil sie sich an ein junges Publikum richten. Oder der Mut, Formeln hinter sich zu lassen. Und schließlich der Mut, die Entwicklung eines solchen Stoffes, der auf Sicherheiten verzichtet, auch zu finanzieren.

Ohne "Rama"-Licht und Süßstoff: "Ich schwör's, ich war's nicht!" (Véro Boncompagni)
Ohne "Rama"-Licht und Süßstoff: "Ich schwör's, ich war's nicht!" (© Véro Boncompagni)

Einen Film, der diese Vorgaben aufs Verblüffendste erfüllt, hat der Regisseur Lars Montag vor vielen Jahren durch Zufall auf der Berlinale entdeckt. „Ich schwör’s, ich war’s nicht!“ des Kanadiers Philippe Falardeau. In erschreckend vielen Kinderfilmen, so Lars Montag, ist alles oft ein bisschen bunter und sonniger, wie in luftigem Papier verpackt. Er nennt diese Unart die „Süßstoff-Methode“; sie raubt den Geschichten ihre Eigenheit und nimmt weder die Figuren noch das junge Publikum ernst.

Wie es anders gehen kann, hat ihm vor einer Dekade der kanadische Film „Ich schwör’s, ich war’s nicht“ vor Augen geführt, der in Berlin sogar einen „Gläsernen Bären“ gewann und der den deutschen Filmemacher so nachhaltig in Bann schlug, dass Montag für sein eigenes Filmschaffen viel daraus abgeleitet hat. In "Nicht alles märchenhaft verpacken!" schildert er, was dieses leise Drama um einen Jungen, der an seinen Eltern und der Welt verzweifelt, aus seiner Sicht so besonders macht und mit welchen inszenatorischen Strategien sich der Film gegen den bonbonfarbenen Standard widersetzt.


Für Kinder wie Erwachsene

Über einen ganz persönlichen „Referenzfilm“ erzählt auch der Filmemacher Bernd Sahling, nämlich über das zeitlose Werk „Sabine Kleist, 7 Jahre“ von Helmut Dziuba, in dem die Protagonistin aus Enttäuschung darüber, dass ihre Erzieherin sich in den Schwangerschaftsurlaub verabschiedet, nachts einfach wegläuft. Wie Dziuba es wohl hinbekam, die junge Darstellerin so überzeugend zu führen? Das, so Sahling in seinem Beitrag "Von Helmut Dziuba lernen", begann lange vor dem Set, nämlich am Schreibtisch und bei den Dialogen, die so geschrieben sind, dass die Darstellerin genau fühlen konnte, was in einer Szene gerade passiert. Das hat viel mit Haltung zu tun, aber auch mit Respekt, vor der Geschichte, den Protagonisten, dem Publikum, aber auch sich selbst gegenüber. Deshalb richtet sich die offen-fordernde Erzählweise von „Sabine Kleist, 7 Jahre“ nicht nur an Kinder, sondern gleichermaßen auch an Erwachsene.

Auch ein Film für Erwachsene: "Sabine Kleist, 7 Jahre" (Progress Verleih)
Auch ein Film für Erwachsene: "Sabine Kleist, 7 Jahre" (© Progress Verleih)

„Sabine Kleist, 7 Jahre“, der 1982 gedreht wurde, ist überdies ein gutes Beispiel dafür, dass „Filme unterschiedlich gut altern“, notiert Sahling. „Oft haben Produktionen, die sich dem Zeitgeist unterwerfen, nur ein kurzes Leben.“ Mit „Sabine Kleist, 7 Jahre“ aber verhält es sich genau andersherum: „Dieser Film ist wie guter Wein. Er wird mit den Jahren immer noch besser“.



Eine Zusammenstellung von Kinder- und Jugendfilmen, die als mitreißende „Referenzfilme“ eine wichtige Rolle spielen


Ronja Räubertochter

Schweden 1984. Regie: Tage Danielsson.


Weil der Räuberhauptmann Mattis seinen Rivalen Borka samt dessen Sippschaft endgültig loswerden will, nimmt er dessen Sohn Birk gefangen. Das aber kann Mattis’ eigene Tochter Ronja unmöglich zulassen, denn heimlich sind die beiden längst Freunde! Als Ronja dafür sorgt, dass Birk freikommt, ist Mattis so gekränkt, dass er nicht mehr ihr Vater sein will. – Sehenswert ab 8.

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Nausicaä aus dem Tal der Winde

Japan 1984. Regie: Hayao Miyazaki


Die junge Prinzessin Nausicäa wagt sich aus ihrem geschützten Tal in eine von tödlichen Giftsporen vergiftete und von gigantischen Insekten bewohnte Welt hinaus. Das bringt die in Lethargie erstarrten Verhältnisse wieder in Bewegung. – Sehenswert ab 12.

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Prinzessin Mononoke

Japan 1997. Regie: Hayao Miyazaki


Die Beherrscherin einer befestigten Siedlung will den Waldberg abholzen lassen, um an wertvolle Erze zu gelangen und daraus Feuerwaffen herzustellen. Ein mutiger Junge stellt sich ihr mit Hilfe einer geheimnisvollen Kriegerin in den Weg. – Sehenswert ab 14.

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Tsatsiki – Tintenfische und erste Küsse

Schweden 1999. Regie: Ella Lemhagen


Ein achtjähriger Junge aus Dänemark träumt davon, seinen ihm unbekannten Vater in Griechenland kennenzulernen. Als er ihm dann tatsächlich begegnet, wird das zur echten Herausforderung. – Sehenswert ab 8.

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Billy Elliot – I Will Dance

Großbritannien 2000. Regie: Stephen Daldry


Ein elfjähriger Junge aus einer britischen Bergarbeitersiedlung vertauscht Mitte der 1980er-Jahre die Boxhandschuhe mit den Tanzschuhen und trainiert gegen alle Widerstände für die Aufnahme in die London Ballett School. – Sehenswert ab 14.

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Shrek

USA 2001. Regie: Andrew Adamson


Ein grüner, dicker Oger soll eine Prinzessin aus der Gewalt eines Drachen befreien, wobei ihm ein übermütiger Esel zur Seite steht. Doch nicht nur die entführte Prinzessin ist für mehr als ein Geheimnis gut. – Sehenswert ab 10.

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Chihiros Reise ins Zauberland

Japan 2001. Hayao Miyazaki


Ein Mädchen und seine Eltern verirren sich in den Wäldern um Tokio und landen in einem Hain für Shintogötter und Dämonen. Nur durch harte Arbeit, beherzten Mut und ihr aufrichtiges Herz kann die Tochter ihre Eltern von einem Fluch befreien. – Sehenswert ab 10.

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Die Monster AG

USA 2001. Regie: Pete Docter


Das Land der Monster lebt vom Erschrecken kleiner Kinder, weshalb seine Bewohner nachts ins Menschenreich einsteigen und die Schlafenden in ihrem Träumen heimsuchen. Bis zwei Monster aus der Reihe tanzen und die Schreckensordnung durcheinanderbringen. – Sehenswert ab 8.

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Whale Rider

Neuseeland 2002. Regie: Niki Caro

https://www.filmdienst.de/bild/filmdb/230060

Die ungeliebte Tochter eines Maori-Stammesführers sieht ihre Stunde gekommen, als heilige Wale an den Strand gespült werden, was nach traditioneller Vorstellung das Ende der Welt ankündigt. – Sehenswert ab 12.

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Ponyo, das große Abenteuer am Meer

Japan 2008. Regie: Hayao Miyazaki


Ein Goldfischmädchen träumt davon, ein Mensch zu werden, und freundet sich mit einem Fischerjungen an. Das aber löst eine Naturkatastrophe aus, die das Dorf ihres Freundes gefährdet. – Sehenswert ab 10.

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Coraline

USA 2008. Regie: Henry Selick


Nach dem Umzug aufs Land erlebt ein Mädchen seltsame Dinge. Verführerische Träume gaukeln ihr ein paradiesisches Leben als perfekten Gegenentwurf zu ihrem Alltag vor. Doch in dieser „anderen“ Welt droht ihre Seele Schaden zu nehmen. – Sehenswert ab 10.

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Oben

USA 2009. Regie: Pete Docter



Ein kleiner Pfadfinder begleitet einen alten Mann bei einer fantastischen Luftreise nach Südamerika, wo sie nach einem seltsamen Vogel suchen, hinter dem auch undurchsichtige Mächte her sind. – Sehenswert ab 10.

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Rico, Oskar und die Tieferschatten

Deutschland 2014. Regie: Neele Leana Vollmar


Wenn es hochbegabte Menschen gibt, dann muss es auch das Gegenteil davon geben: „tiefbegabte“ Menschen. Kongeniale Verfilmung des Kinderbuchs von Andreas Steinhöfel. – Sehenswert ab 8.

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Alles steht Kopf

USA 2015. Regie: Pete Docter


Nach einem Umzug in den Mittleren Westen der USA geraten die Gefühlskräfte im Kopf eines Mädchens aus der Balance. Bald kann die Freude ihre Kollegen, Ärger, Angst, Kummer und Ekel, nicht mehr kontrollieren, was zu wahrem Chaos führt. – Sehenswert ab 10.

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Das Blubbern von Glück

Australien 2019. Regie: John Sheedy


Eine junge Australierin kämpft nach dem plötzlichen Tod ihrer Schwester nicht nur darum, dass ihre Familie nicht auseinanderfällt, sondern kümmert sich auch um einen Außenseiter in ihrer Klasse, der glaubt, von einem anderen Stern zu stammen. – Sehenswert ab 12.

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Soul

USA 2020. Regie: Pete Docter


Ein Jazzpianist verunglückt und kämpft darum, aus dem Jenseits wieder zurück nach New York zu gelangen. Dabei bringt er die himmlische Ordnung durcheinander. – Sehenswert ab 10.

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Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess

Niederlande 2019. Regie: Steven Wouterlood


Ein stiller Junge, der über den Tod nachgrübelt, und ein aufgedrehtes Mädchen, das seinen fremden Vater bezirzen will, freunden sich während der Sommerferien miteinander an. – Ab 10.

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