© imago images/Ronald Grant (Dennis Hopper in "Night Tide")

Kabinett des Vergessenen - Das Miniportal "byNWR"

Nicolas Winding Refn restauriert vergessene Werke aus den Niederungen der Filmgeschichte und stellt sie auf seiner Website byNWR kostenlos zum Streamen bereit

Veröffentlicht am
21. März 2021
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Auf der 2018 ins Leben gerufenen Website byNWR versammelt der dänische Regisseur Nicolas Winding Refn neu restaurierte Produktionen aus den Niederungen der Filmgeschichte. Die B-Movies und Exploitation-Filme stehen vorwiegend mit optionalen deutschen Untertiteln kostenlos zum Streamen bereit und konfrontieren in Gestalt schundiger Genrefilme mit dem Vergessenen und Verdrängten.


Gleich nach ihrer Hochzeit im beschaulichen Grand Rapids ziehen Cliff und Mindy nach Los Angeles, um dort ein neues Leben zu beginnen. Zunächst sind sie von den unzähligen Möglichkeiten der Großstadt ganz entzückt. Doch bald stellt sich heraus, dass das trotz seines jungen Alters ziemlich altbackene Paar den überall lauernden Versuchungen nicht gewachsen ist. Der plumpe Cliff wirkt schon von seiner freizügigen Nachbarin, die sich gerne bei offener Tür umzieht, überfordert und lässt sich nicht selten zu Komplimenten hinreißen, die eher wie Vergewaltigungsfantasien klingen. Die naive Mindy gerät währenddessen in die Fänge einer lesbischen Nachtclubbesitzerin mit sadistischen Neigungen. Erst nach einer dramatischen Krise findet das Paar wieder zusammen und kehrt dem Sündenbabel schließlich den Rücken.

One Shocking Moment“ (1965) ist ein mit wenig Geld produzierter, überwiegend in Wohnzimmern gedrehter Sexploitationfilm, dessen ohnehin nur halbernst gemeintes konservatives Ende kaum darüber hinwegtäuschen kann, dass es sich hier bei den Schlüpfrigkeiten um die eigentlichen Attraktionen handelt. Regisseur Ted V. Mikels, unter dessen Bewunderern sich Trash-Papst John Waters befindet, hat ein „guilty pleasureim wahrsten Sinne des Wortes gedreht: wie gemacht für Zuschauer aus der Provinz, die hier ihre teils grotesk verzerrte Vorurteile gegenüber der Großstadt bestätigt sehen und sich zugleich an all den Schweinereien erfreuen können, die ihnen vorbehalten bleiben.

"One Shocking Moment" von Ted V. Mikels (byNWR)
"One Shocking Moment" von Ted V. Mikels (© byNWR)

Dieses spritzige Moralstück ist wenig überraschend auf keiner der gängigen Streaming-Plattformen zu finden, sondern auf der 2018 ins Leben gerufenen Website des dänischen Regisseurs Nicolas Winding Refn. Mit Filmen wie „Only God Forgives“ oder „The Neon Demon“ hat Winding Refn hinlänglich unter Beweis gestellt, dass hinter seinem ausgeprägten Stilwillen auch ein Faible fürs schundige Genrekino schlummert. Auf byNWR gibt es kostenlos über zwanzig neu restaurierte, vorwiegend mit optionalen deutschen Untertiteln verfügbare Produktionen aus den Niederungen der Filmgeschichte. Laut Selbstbeschreibung widmet sich das Projekt dem Seltenen, Vergessenen und Unbekannten. Der Schwerpunkt liegt dabei vor allem auf US-amerikanischen B-Movies und Exploitationfilmen der 1960er Jahre.


Eine bunte Sammlung Trash

Der bekannteste und in vielerlei Hinsicht auch untypischste Film der Auswahl ist das düster poetische, lose von Edgar Allen Poe inspirierte Underground-Märchen „Night Tide“ (1961) von Curtis Harrington. Ein kindlich naiver Dennis Hopper spielt darin einen Matrosen, der einer Kirmes-Arbeiterin verfällt. Unheilvolle Vorzeichen deuten jedoch darauf hin, dass diese eine Männer verschlingende Meerjungfrau sein könnte. Wirklichkeit und Mythos verschwimmen dabei ebenso wie Anziehung und Unbehagen. Harrington, der seine Laufbahn mit kurzen Experimentalfilmen begann und später sonderbare Horrorfilme wie „Wer hat Tante Ruth angezündet?“ (1972) drehte, könnte mit seinem bedächtig atmosphärischen Stil nicht weiter von einem Regisseur wie Ted V. Mikels entfernt sein.

Ein weiterer Ausnahmefilm auf byNWR ist Joseph L. Andersons impressionistisches Indie-Drama „Spring Night Summer Night“ (1967). Ein Junge aus der Provinz schwängert darin seine Halbschwester und denkt mit ihr über eine gemeinsame Zukunft nach. Statt sich bei einem klärenden Gespräch zu einigen, verpassen sich die Figuren entweder ständig oder reden aneinander vorbei. Die Kamera verliert sich währenddessen im Niemandsland von Ohio. Man erfährt, dass sich hier einst ein Kohlebergwerk befand, sieht aber nur noch eine Geisterstadt, in der sich die wenigen Verbliebenen mit reichlich Alkohol über ihre zerplatzten Träume hinwegtrösten. Der erst jüngst wiederentdeckte „Spring Night Summer Night“ ist weniger ein Melodram als ein Film der äußeren Umstände. Von den nur skizzenhaft umrissenen Figuren schweift sein rauer, dokumentarischer Blick immer wieder zu jener Gesellschaft und Landschaft ab, die sie hervorgebracht haben.

Unter völlig anderen Produktionsbedingungen widmet sich Joseph Lerner in „Guilty Bystander“ (1950) seinen gescheiterten Existenzen. Der Film, der unter dem Titel „Hotel der Verlorenen“ auch schon im deutschen Fernsehen lief, basiert auf einer Krimireihe über den abgehalfterten Ex-Cop Max Thursday. Auf der verworrenen Suche nach seinem entführten Sohn, folgt der Film dem schwer alkoholabhängigen Detektiv durch ein schmieriges, in dramatisches Helldunkel getauchtes New York voller Hinterhöfe und abgewrackter Unterweltfiguren. Toll sind dabei vor allem die Schauspieler, besonders Mary Boland als zwielichtige Hotelbesitzerin mit Reibeisenstimme und Kay Medford als gefallener Engel, der das Hoffen noch nicht aufgegeben hat.

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"Guilty Bystander" von Joseph Lerner (© imago images/Everett Collection)

Vorliebe für verhinderte (Film-)Karrieren

Auch das mit Film noir-Elementen spielende Genre-Kleinod „Stark Fear“ (1962) von Ned Hockman erweist sich mit seinem resignierten Blick auf eine emotional verwahrlose Gesellschaft als ungeschliffener Diamant. Als sich die ergebene Hausfrau Ellen (Beverly Garland) mit einem Bürojob selbst verwirklichen will, bekommt sie es mit ihrem sadistischen und kontrollsüchtigen Gatten zu tun. Als der wenig später spurlos verschwindet, macht sie sich zwischen den Ölfeldern Oklahomas auf die Suche und scheint dabei auch irgendwie sich selbst finden zu wollen. Beklemmend wirken dabei die eng gesteckten Grenzen von Ellens Selbstbestimmung. Selbst nachdem sie erfährt, dass sie nur der Spielball eines lange schwelenden Konkurrenzkampfes ist, gelingt es ihr nicht, sich aus der Abhängigkeit von den Männern zu befreien. Falsch wirkt das vermeintliche Happy End schon deshalb, weil selbst ein vorübergehendes Single-Leben für Ellen nie ernsthaft in Erwägung gezogen wird.

Für Hockman blieb „Stark Fear“ die einzige Regiearbeit. Auch sonst begegnet man auf byNWR zahlreichen Regisseuren und Schauspielern, die nur kurze Gastspiele im Filmbusiness absolvierten – bei manchen mag man darüber streiten, ob es dafür einen guten Grund gab. Es lässt sich nur darüber spekulieren, ob sie zufällig beim Film gelandet sind oder sich vielleicht vom ausbleibenden Erfolg zu schnell entmutigen ließen. Für Winding Refns Filmauswahl sind solche verhinderten Karrieren aber bezeichnend, weil hier keine rundum gelungenen Meisterwerke gesucht werden, sondern die Schönheit im Unvollkommenen.

Archivarbeit bedeutet auf byNWR nicht, das Respektable, demonstrativ Kunstfertige und vermeintlich Relevante zu bewahren, sondern sie folgt der Auffassung, dass grundsätzlich alles interessant ist. Nur weil ein Film schnell und für wenig Geld gedreht wurde oder seine Ambitionen am Unvermögen der Beteiligten scheiterten, heißt das noch lange nicht, dass er der Nachwelt nichts zu erzählen hätte. Bei den meisten Titeln informiert der Abspann darüber, dass die Restaurierung auf der Basis der letzten existierenden 35mm-Kopie erfolgte. Vieles, was man hier sehen kann, wäre um ein Haar für immer verschwunden.

Dass hinter der Website auch ein filmhistorisches Interesse steht, zeigt sich an der Präsentation des exaltierten Südstaaten-Splatter-Familiendramas „House of Seven Belles“ (1979) von Andy Milligan. Da der Film nie fertiggestellt wurde, ist nur ein Rohschnitt verfügbar, der kurz vor dem Finale abbricht. ByNWR lädt dazu ein, sich in den ungelesenen Kapiteln der Popkultur zu vertiefen; wobei das Mini-Portal seinem Gegenstand weder abschätzig ironisch noch akademisch spröde begegnet. Durch die nicht immer ganz übersichtliche, thematische Gliederung der Filme werden Besucher auch mit reichlich Sekundärliteratur versorgt. Hintergrundtexte zu den Restaurierungen finden sich hier ebenso wie Porträts über Regisseure oder Hillbilly-Sänger sowie Essays über Babydoll-Kleider und Vergnügungsparks.

Die Filme selbst kann man mitunter durchaus als Schund bezeichnen. Doch was in einem Moment ermüdend und dilettantisch wirkt, erscheint im nächsten wagemutig, kurios und wahnwitzig. „Gräfin Frankensteins Liebestempel“ (1962) etwa ist mit seiner Mischung aus Charleys-Tanten-Klamauk, Gothic Horror und Nudistenfilm schon allein wegen seiner bloßen Existenz bemerkenswert. Das psychedelische Hippie-Melodram „Walk the Walk“ (1970) über einen heroinabhängigen Mönch und seine verzweifelte Suche nach Erlösung ist zwar völlig zerfahren, findet aber in seinen hölzernen Liebesszenen eine sonderbare Anmut. Ebenfalls verfügbar ist auch das Regiedebüt von Bob Clark, der es mit dem Proto-Slasher „Jessy – Die Treppe in den Tod“ (1974) und der Sexkomödie „Porky’s“ (1981) später noch zu größerer Bekanntheit gebracht hat. Allerdings erweist sich „She-Man: A Story of Fixation“ (1967), der halb No-Budget-Reißer über eine erpresserische Drag Queen, halb humanistischer Lehrfilm über abweichendes Sexualverhalten ist, als ziemlich zähe Angelegenheit.



Die Wahrheit im Reißerischen

Ausgerechnet manche der schäbigsten Filme zählen zu den interessantesten Werken auf byNWR. Etwa die Regiearbeiten von Joseph P. Mawra, die reißerisch, geschmacklos und schlampig gemacht sind. „Murder in Mississippi“ (1965) erzählt von einer Gruppe Bürgerrechtler, die in einer Südstaaten-Kleinstadt schwarze Wähler registrieren wollen und dabei an einen rassistischen Sheriff geraten. Bei den Versuchen der Hinterwäldler, den jungen Leuten eine Lektion zu erteilen, weidet sich Mawra an Grausamkeiten. Ein entführtes weißes Mädchen wird mit zerfetztem Kleid wie ein Tier gehalten, der schwarze Junge, der sie befreit, später von Polizisten mit einem Messer kastriert.

Dennoch zeichnet sich der Film weniger durch seine Schauwerte als durch seine unversöhnliche Sichtweise aus. So stellt er die Halbherzigkeit weißer Aktivisten bloß und vermittelt die Aussichtslosigkeit der Lage in einer langen Szene, in der ein schwarzer Wähler nach dem anderen seine Stimme verweigert, weil man nicht noch mehr Probleme mit den Weißen haben wolle. „Murder in Mississippi“ ist mit seinen überzeichneten Bösewichten auch äußerst unterhaltsam, aber er befriedigt dabei keinen zynischen Voyeurismus. Vielmehr sorgt Mawra trotz bescheidener Mittel für Wut und Empörung. Bezeichnenderweise endet „Murder in Mississippi“ mit dokumentarischen Aufnahmen einer Demonstration gegen Polizeigewalt.

Noch eine Spur grenzüberschreitender und brutaler geht es in „Shanty Tramp“ (1967) zur Sache. Ein bösartiges Flittchen, das nicht minder bösartigen Kerlen den Kopf verdreht, hinterlässt dabei eine Spur der Zerstörung. Zu ihren Opfern zählen ein geldgieriger Priester, ein brutaler Rocker sowie ein schwarzer Junge, der am Ende wegen einer Lüge von einem Lynchmob gejagt wird. Joseph P. Mawra zeichnet ein streckenweise sehr komisches, letztlich aber auch ziemlich erschütterndes Panorama menschlicher Niedertracht. Ehrlich wirkt der Film, weil er, anders als im Mainstreamkino üblich, erst gar nicht versucht, einen Sympathieträger zu etablieren. In der degenerierten Kleinstadt-Welt von „Shanty Tramp“ braucht man weder auf seine Mitmenschen oder Eltern noch auf staatliche Institutionen zu hoffen.


Ein christlicher Propagandafilm

Mehr über die dunkle Seite der USA offenbart der christliche Propagandafilm „If Footmen Tire You, What Will Horses Do?“ (1971). Es ist die erste von drei Kollaborationen zwischen dem nach einem Unfall zum Christentum bekehrten Exploitation-Regisseur Ron Ormond und dem Baptisten-Prediger Estus W. Pirkle. In Spielszenen wird darin über die Barbarei einer nahenden kommunistischen Invasion fantasiert. Wodka trinkende Russen in schlecht nachgemachten Uniformen ballern hysterisch in Menschenmengen, erklären Frauen zu Kollektiveigentum und enthaupten unschuldige Kinder. Schreiend komisch ist das alles, weil es so wahnsinnig abstrus ist. Allerdings gewährt der Film, der ursprünglich jüngere Gemeindemitglieder auf den rechten Weg bringen sollte, auch einen schonungslosen Einblick in die Seele eines erzkonservativen Milieus, das in jedem Anflug von Fortschrittlichkeit einen Weltuntergang vermutet.

Anarchische Filmcollage: "Emerald Cities" (byNWR)
Anarchische Filmcollage: "Emerald Cities" (© byNWR)

Wie ein politischer Gegenentwurf wirkt dazu ein Themenschwerpunkt zum Punk-Kino. Neben der anarchischen Filmcollage „Emerald Cities“ (1983) von Rick Schmidt beinhaltet er auch eine sehenswerte Zusammenstellung alter Musikvideos. Bands wie Devo oder The Residents beschwören darin mit kindlichen Stop-Motion-Animationen und Nonsens-Kostümen eine totalitär faschistische Dystopie herauf. Dabei hat diese Do-it-Yourself-Ästhetik mehr mit den anderen Filmen auf byNWR gemein, als es zunächst den Anschein macht. Was sie eint, ist nicht nur ein Bruch mit bürgerlichen Geschmacksvorstellungen, sondern auch die pragmatische Erkenntnis, dass man mit weniger Geld vielleicht nicht unbedingt die besseren Filme macht, häufig aber doch die wilderen, abgründigeren und respektloseren.

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