Kreuzchen statt Kreativität?

Von der Diversity-Checkliste zum Universalismus: Ein Plädoyer für einen radikalen Umbau der Filmförderung

Veröffentlicht am
10. August 2020
Diskussion

Mit „divers“ erzählten Stoffen will die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein (FFHSH) künftig bislang vernachlässigte Zielgruppen des deutschen Films ansprechen. Bei Förderanträgen muss künftig eine „Diversity“-Checkliste ausgefüllt werden. Damit droht nach den Länder-Effekten einmal mehr neuer Förder-Unsinn. Viel besser wäre es, das Förder-System generell radikal umzubauen. Und mutig nach Wegen aus der Identitätsfalle zu suchen.


Hamburg wurde in den letzten Jahren nicht gerade durch Filme von künstlerischem Rang auffällig. Das war mal anders, ist aber wirklich schon lange her, als in Hamburg im deutschen Film um 1970 herum aufregende Dinge geschahen. Künstlerisch ist die Stadt heute wieder das Provinznest, das es zur Zeit der Buddenbrooks schon war. Ungestört vom Normierungsdruck der Filmförderung entstehen allenfalls an der Hamburger Hochschule für bildende Künste (HfbK) im Schutze der Klassen von Robert Bramkamp, Jeanne Faust oder Angela Schanelec Filme von Kreativen, deren Lebensziel nicht der nächste „Tatort“ ist und deren Ideen nicht für eine Wirklichkeit ertüchtigt werden, die man eigentlich verändern müsste.


Weitere Essays von Lars Henrik Gass auf filmdienst.de


Nun aber hatte man bei der dort zuständigen Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein (FFHSH) eine originelle Idee, die dem Medienstandort zumindest kurzzeitig Aufmerksamkeit verschaffte. Künftig sind Filmemacher verpflichtet, um überhaupt Aussicht auf Fördermittel zu haben, eine sogenannte „Diversity-Checkliste“ einzureichen, die zehn Punkte umfasst. Ob man sich das so vorstellen muss: Je mehr Fragen mit „Ja“ beantwortet werden, desto größer die Chancen auf Förderung? Die Idee hört sich an wie: Schluss mit Bürokratie und Diskussionen. Lochkarten statt Gremien. „Künstlerische Freiheit oder arbeitsrechtliche Fragen“ seien davon freilich nicht berührt. Was aber möchte man dann? „Die Filmbranche hat die Verantwortung und auch die Chance, diese diverse Gesellschaft, die in unserer Alltagsumgebung gegenwärtig ist, auch im Film zu repräsentieren – ohne in Klischees zu verfallen oder unbewusste Vorurteile zu bestätigen.“ Das wäre schön, da der deutsche Film an Klischees und Vorurteilen ja nicht arm ist.

Screenshot aus der Diversity-Checkliste "Produktion für Spielfilm und fiktionale Serien"
Screenshot aus der Diversity-Checkliste "Produktion für Spielfilm und fiktionale Serien"

Was ist „gut“ oder sogar „besser“?

Der Auftrag der FFHSH ist in deren Richtlinien hinreichend unklar bestimmt: „Förderentscheidungen sollen ausschließlich nach qualitativen und/oder wirtschaftlichen Kriterien gefällt werden.“ Die Sprecherin der FFHSH, Claudia Hartmann, führte aus, dass es in Förderentscheidungen immer um die Qualität der Stoffe gehe; die Erfahrung habe gezeigt: Je diverser ein Film sei, desto besser sei er meistens auch. Demnach müsste es sich bei dem „Diversity“-Aspekt um eine „Qualität“ handeln. Aber was ist „divers“? Und was ist „gut“ oder sogar „besser“? Besser als was? Und vor allem: Wer definiert dies? Helge Albers, Geschäftsführer der FFHSH: „Unsere Jurymitglieder haben diese Aspekte schon berücksichtigt“, so wurden sie ja hoffentlich auch ausgewählt, „– allerdings ganz subjektiv“, jedenfalls nicht objektiv marktkonform. „Diversität war nie klar definiert und strukturell verankert.Dies soll nun offenbar ästhetische, filmhistorische und kritische Aushandlungsprozesse ersetzen. „Mit divers erzählten Stoffen kann sich der deutsche Film ganz neue Zielgruppen erschließen, ein bislang vernachlässigtes Publikum ansprechen. Das Kino erweitert seine erzählerischen Möglichkeiten durch andere Perspektiven und Tonalitäten. Und das ist überlebenswichtig, zumal die internationale Konkurrenz nicht schläft.“

Diversity sells, denkt man sich in der FFHSH, weil man sich gar nicht mehr vorstellen kann, dass Qualität auch ohne Marketing ankommt. Demnach muss es sich bei dem Diversity-Aspekt doch eher um ein wirtschaftliches Kriterium handeln. „Die neuen Checklisten sind ja tatsächlich nur Listen, auf denen man seine Kreuzchen macht.“ Künftig aber werden sie über das Schicksal eines Filmprojekts entscheiden, wahrscheinlich nicht nur im Einflussbereich der FFHSH. Die Definition von „Diversity“ in Treatments und anderen Bereichen bleibt einstweilen Geschmackssache von Intendanten: „Förderentscheidungen der Geschäftsführung werden schriftlich mitgeteilt, jedoch nicht begründet.“ Die in der Verfassung verbürgte Freiheit der Kunst gilt auch für den deutschen Film, solange man dafür nicht auch noch Geld will.

Screenshot aus der Diversity-Checkliste "Produktion für Spielfilm und fiktionale Serien"
Screenshot aus der Diversity-Checkliste "Produktion für Spielfilm und fiktionale Serien"

Als künstlerische Relevanz noch ein Maßstab und kein Verdachtsmoment war

Das deutsche Kino hat einmal Filme hervorgebracht, die in hohem Maße „divers“ waren, als man das Prädikat noch gar nicht kannte und künstlerische Relevanz noch ein Maßstab und kein Verdachtsmoment war, etwa Filme von Rainer Werner Fassbinder, Elfi Mikesch, Ulrike Ottinger, Helke Sander, Werner Schroeter. Vielfalt war Ausdruck künstlerischer Freiheit, die im Filmfördersystem nicht erwünscht und kaum möglich ist. Filme wie „Angst essen Seele auf“ oder „Palermo oder Wolfsburg“ wären heute schlichtweg zu radikal. Gegenwärtig stellt sich Vielfalt in diesem System eher aus Versehen ein. Im Grunde schreiben die Filmförderer mit ihren Richtlinien die Drehbücher der Filme, die sie sehen wollen. Wer etwa begreifen will, warum in deutschen Filmen Leute von Berlin nach Nordrhein-Westfalen fahren, versteht das erst mit dem Abspann, aus dem hervorgeht, woher das Geld stammt. Mit den „Checklisten“ wird es ähnlich laufen.

Die Filme entstehen für ein System, das sich durch seine Anforderungen und Beschränkungen selbst als ästhetische Norm bedrückend „alternativlos“ gesetzt hat und erschreckend gleichförmige Ergebnisse hervorbringt. Risikobegrenzung lautet das Prinzip, das schon an Hochschulen eingebläut wird, bevor überhaupt ein einziger Gedanke aufkommen konnte, als Grundsatz eines Marktes, den es im deutschen Film seit Einführung der Filmförderung gar nicht mehr gibt. Die Länderförderungen machen das Gleiche, mit dem gleichen Ergebnis, statt in einen kreativen Wettbewerb untereinander zu treten. Beim Deutschen Filmpreis gibt es nur noch Daumen hoch oder runter, die Gremien der Filmförderungen sind mit den Abgesandten der Geldgeber besetzt; teilweise sitzen die Filmförderer sogar gegenseitig in ihren Gremien.

Fassbinder konnte bis zu sieben Filme im Jahr (1970) machen; heute benötigen selbst namhafte Filmemacher sieben Jahre für einen Film, von dessen künstlerischen Ambitionen am Ende oftmals wenig übrigbleibt, nachdem Heerscharen von Förderreferenten und Fernsehredakteuren über ihn hergefallen sind. Die Filmförderer der Länder schieben sich die Eigenanteile für Filme hin und her (teils mit Kooperationsabsprachen), weil keiner etwas so ganz falsch machen will, aber auch keiner etwas so ganz richtig machen kann, weshalb die Filmemacher jahrelang hinter der Finanzierung ihrer Filme herlaufen, statt einen Film dann zu machen, wenn er gemacht werden muss. Ein Filmemacher in Deutschland ist heute ein Fundraiser. Eines der ganz großen strukturellen Probleme des deutschen Films besteht darin, dass Filme nicht schnell und mit großem Risiko gemacht werden können; denn Filmemachen lernt man nicht aus Büchern und ganz bestimmt nicht von Förderreferenten und Fernsehredakteuren.

Ziel der deutschen Filmförderung ist nicht der vielfältigere, bessere (künstlerisch relevantere) Film (internationale Bedeutungslosigkeit nimmt man achselzuckend in Kauf), sondern ein bisschen Image für den Standort, Erfolg an der Kasse und, da der ausbleibt, Systemerhalt, also Leute in Lohn und Brot halten, deren Filme man mitunter schneller wieder vergessen hatm als deren Realisierung dauerte.

Filmförderung sollte früher einmal größere künstlerische Freiheit bewirken, Filme, um derentwegen sich der Besuch im Kino noch lohnt. Erhalten haben wir jedoch ein System, das die „Branche“ um den Preis gediegener Langeweile am Leben hält. Die deutsche Filmförderung hat den deutschen Film, den sie verdient!

Wünschenswerte Vielfalt - oder nur neue, einengende Spielregeln? (© imago images/Norbert Schmidt)
Wünschenswerte Vielfalt - oder nur neue, einengende Spielregeln? (© imago images/Norbert Schmidt)

Wie Filmförderung mit Vielfalt verfährt, konnte man 2019 nach einer Tagung in Köln studieren, wo eine Filmemacherin (deren Migrationshintergrund hier der Sache wegen erwähnt sei) eine (sehr moderate) Kritik an der Filmförderpraxis äußerte und anschließend den ermahnenden Anruf eines Förderreferenten erhielt, der von der Geschäftsleitung zur Kontrolle abgestellt worden war. Auch das kein Einzelfall.


What Empowerment?

Die fast einmütige Akklamation einer Diversity-Checkliste in der „Branche“ (Leute, die es irgendwie schaffen, im Filmfördersystem zu überleben) ist dann aber doch ein bisschen verwunderlich, denn die Hürde für den Zugang zu Fördermitteln wurde nochmals erhöht (wenn auch nur um ein paar „Kreuzchen“), wie auch die Bedeutung unabhängiger Gremien nochmals geschwächt (die ja nur „subjektiv“ entscheiden). Vielfalt, die man hier verspricht, läuft auf eine weitere Standardisierung von „Produkten“ gleichgeschalteter „Filmschaffender“ hinaus, die einer fragwürdigen Form von Objektivität auf den Leim gehen, zermürbt durch Anstehen und Verteilungskämpfe. Mitbestimmung in der Filmförderung, die am Anfang der Länderförderungen stand, ist längst Geschichte. Jedenfalls ist mit der Vielfalt, von der wir hier sprechen, keine politische Partizipation gemeint, und ästhetische Diversifizierung schon gar nicht. Sondern vielmehr eine gesellschaftliche Legitimation des Fördersystems sowie die fortschreitende Formalisierung des Förderverfahrens.

Doch wie will man über diese Fragen genauer sprechen, wenn Rechtsnationale wildgeworden über „Kultur-Sozialismus“, „Diversität“ und „Gender Studies“ herfallen? Die AfD sieht bereits „filmsozialistischen Totalitarismus“ am Werk; andere sprechen von „ideologischer Gleichschaltung“ oder „konformistischen Staatskünstlern“. Wie kommt man aus der Identitätsfalle heraus?

Die Filmemacherin und Schauspielerin Mateja Meded gab in einem bemerkenswerten, aber leider bezahlschrankenbewehrten Artikel, den sie mittlerweile frei zugänglich rezitiert, eine feministische und anti-rassistische Antwort. Wer es ernst meine mit der Diversität, müsse dafür sorgen, dass Vielfalt bei der Besetzung entscheidungstragender Positionen stattfinde: „Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, dann muss man bei der Wurzel anfangen, was in diesem Fall die Struktur ist. Nur wenn wir die Leitungsebenen in Theater und Film neu mit empowerten Künstler*innen besetzen, denen man gesellschaftliche Machtstrukturen nicht erklären muss, wird sich etwas verändern. Und zwar auf allen Ebenen. Alles andere ist Clausthaler.“ In Mededs Augen ist die Diverstiy-Checkliste ein „Infoblatt für das weiße Patriarchat“. Universalismus durch Paternalismus ist keine Option. Eine aktuelle Studie zur „Vielfalt im Film“ geht genau in diese Richtung: Vielfalt nicht durch Repräsentation, sondern durch Partizipation.

Fehlt nur noch die Radikalität des Empowerments selbst. Wie also überwindet man „lokale Mehrheitsverhältnisse oder Homogenität in den Kontaktzonen“ (Jürgen Kaube), dass sich also die sinnentleerte Funktionsweise des Fördersystems in Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft etc. reproduziert und die Misere sich trotz „Diversity“ fortsetzt? Ein System, das sich gegen künstlerische Innovation immunisiert hat – das Vielfalt eher verhindert als fördert –, verträgt sich mit Quotenpolitik prima. Die Nachbesetzung von institutionellen Schlüsselpositionen (faktische Macht und deren Ausübung) durch (teils sogar jüngere) Frauen stand dem Fortgang der Dinge in den letzten Jahren nicht im Wege. Über dieser Art geschlechtsspezifischer Veränderung stellte sich bislang jedenfalls kein Eindruck von Aufbruch ein.


Identität ist eine Sackgasse

Die Einführung einer Diversity-Checkliste mag die ernsthafte Absicht verfolgen, Diskriminierung zu verhindern, behebt aber die strukturellen Missstände der Homogenität von Personen und Ergebnissen im Bereich der Filmförderung nicht. Vielfalt wird zur Formsache, die man abhaken kann, damit es weitergeht wie gehabt, weil die abgefragten Kriterien Inhalte sind, die einer kritischen Prüfung erst einmal nicht standhalten müssen. Wahrscheinlich werden wir in deutschen Filmen künftig nicht nur Standort-, sondern auch Diversity-Effekte anschauen müssen („Hautfarbe bzw. People of Color“, „sexuelle Identitäten“ usw.). Statt Partizipation und Kunst erhalten wir Identitäten. Das ist ein schlechter Tausch.

Identität ist eine Sackgasse. So greift Zoran Terzić in seinem Buch „Idiocracy“ „die bürgerliche Idiosynkrasie einer weißen Mittelschicht-Befindlichkeit im Namen von Minderheiten“ scharf an, „wenn also die critical whiteness unter den Bedingungen der uncritical whiteness stattfindet“, wenn „Migration als Manko vorabdefiniert und zur Freakshow kultureller Antragsteller wird, deren Partikularitäten über die politische Bühne gezerrt werden. Auch der Migrant wird zum Freakindividuum, zu dessen Vervollkommnung nur noch die Integration fehlt. Die ist nach außen entzündungshemmend, nach innen infiziert sie die Wunde. Jegliche Idiosynkrasie erscheint als Packungsform eines frenetischen, wenngleich in den Schranken der Normalität verweilenden Pseudoindividualismus, der jeden Versuch des Außenseiters/Ausländers zunichtemacht, eine authentische, das heißt politische Stimme zu finden. Migranten werden nicht wie die Stammbevölkerung in linke, liberale und rechte, sondern nach Herkunft oder Religion unterteilt. Eine Freakshow der Kulturalisierten.“

Nicht minder polemisch prangerte Maxim Biller „Identitäts-Politik-People“ an, „die mit dem tränenreichen, stigmatisierenden Hinweis auf die sie angeblich beleidigende sexuelle, soziale, geschlechtliche, moralische Zugehörigkeit von Irgendwem zu Irgendwas einfach nur gesellschaftliche und berufliche Konkurrenten aus dem Weg räumen wollen, um zum Schluss selbst ihren Platz einzunehmen.“

Zu beklagen ist also eher eine „Krise des Allgemeinen“ (Andreas Reckwitz), dass „singularisierte Standpunkte, wie Identitätspolitiken, zu Imperativen verallgemeinert werden“. Emanzipation erfolgt daher nicht durch „Identitätspolitik“, die nicht einmal den Identitätsgruppen hilft (wie Robert Pfaller sagt), indem man etwa das generische Maskulinum, das mit dem biologischen Geschlecht verwechselt wird, abschafft – oder Diversity-Checklisten einführt –, sondern durch einen neuen politischen Universalismus, also indem man sozial bedingte Ungleichheit abschafft; dann ist auch die Frage, wer in Filmen Cartoon-Figuren mit schwarzer Hautfarbe synchronisiert, wie dies derzeit diskutiert wird, nicht mehr eine Frage der Identität. Ulrike Meinhof (zitiert nach Jutta Ditfurths herausragender Monografie) hat das in einem Buchbeitrag mit dem Titel „Falsches Bewußtsein“ schon im Jahr 1968 klar benannt: Die Forderung nach Emanzipation verkomme zum Wunsch nach Gleichberechtigung, der „die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Ungleichheit zwischen den Menschen nicht mehr infrage“ stelle. Genauer lässt sich das kaum formulieren. Was kann man gegen Diskriminierung tun, die zweifellos auch in der Kultur besteht? Empowerment und Vielfalt müssten politisch und künstlerisch gedacht und umgesetzt werden, statt identitär.


Lars Henrik Gass ist Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, Herausgeber filmwissenschaftlicher Werke und Autor. Auf filmdienst.de veröffentlicht er regelmäßig filmpolitische Essays.

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