Anna ist krank und braucht dringend eine Luftveränderung. Erst kürzlich hat sie wieder einer dieser Asthmaschübe ereilt, die den Tag in der Schule noch unerträglicher machen. Anna ist zwölf Jahre alt und kein sonderlich aufgeschlossenes Kind, auch wenn sich die untrüglichen Symptome der Pubertät einmal nicht mit Kurzatmigkeit paaren. Eher burschikos im Auftreten, legt sie es nicht darauf an, mit Altersgenossen die anstehenden Sommerferien zu verbringen. So mag die Krankheit für Annas Pflegemutter Yoriko gleich mehrfach ein willkommener Anlass sein, dem Kind ein paar Wochen Auszeit zu gönnen. Weit weg von der Großstadt Sapporo, in der dörflichen Beschaulichkeit jenes Küstenstädtchens, in der Yorikos ältere Schwester Kiomasa mit ihrem Mann Setsu schon ewig ein Dasein zwischen Hippiekommune und bäuerlicher Abgeschiedenheit probt.
Der Vorspann von Hiromasa Yonebayashis Trickfilm hat nicht einmal begonnen, und schon scheint man überhäuft mit den vielfältigen Dramen einer schweren Kindheit. Doch Anna, die stille Heldin der Geschichte, ist alles andere als wehleidig. In einer Mischung aus Trotz und Schüchternheit ergibt sie sich ihrem Schicksal, nicht ohne insgeheim zu wünschen, dass ihr Leben doch einfach nur „normal“ ablaufen möge. Aber was ist schon normal?
Das geräumige Haus der Verwandtschaft, in dem Anna ein eigenes Zimmer bekommt, wirkt ein wenig wie ein magischer Ort. Die handfeste Kiomasa und ihr trolliger Setsu finden an Anna nichts „Krankes“ und nichts „Falsches“ und lassen ihr erst einmal die Freiheit, die ihr in der Enge des Stadtlebens verwehrt blieb. So wirkt schon der erste Nachmittag an der ruhigen kleinen, von den Gezeiten umspielten Bucht irgendwie nicht von dieser Welt. Kommt ihr nicht alles bekannt vor? War sie hier schon einmal irgendwann, vor langer Zeit? Eine verwunschene alte Villa in der Nachbarschaft direkt am Wasser scheint eine unwirkliche Anziehung auf Anna auszuüben. Früher haben hier wohl Ausländer aus Europa gewohnt. Doch hat Anna in der Dämmerung nicht Licht und ein Mädchen erspäht? Sie beschließt, dem Trugbild auf den Grund zu gehen, und rudert bei einsetzender Abendflut heimlich zum Anwesen, um ihre Eindrücke zu bestätigen. Doch Anna bleibt nicht lange unentdeckt. Das Haus ist voller Leben, und das Mädchen, das schnell Gefallen an dem kaum älteren Gast aus der Großstadt findet, heißt Marnie. Marnie wirkt mit ihren blauen Augen, dem strohblonden Haar und den feinen Kleidchen eigentümlich fremd und aus der Zeit gefallen. Doch Anna empfindet bei ihr das erste Mal das Gefühl von Geborgenheit und Seelenverwandtschaft.
Ein erdenschweres Drama um ein pubertierendes asthmatisches Pflegekind, das sich mit Fragen über seine Herkunft quält, wandelt sich binnen Minuten in ein sanftes Coming-of-Age-Abenteuer jenseits einer rationalen, fassbaren Welt. Dieser Spagat ist – wenn überhaupt – nur im japanischen Animationsfilm möglich. Hier reicht schon eine Zugfahrt in ein verwinkeltes Küstental, und schon geben sich Sozialstudie und Geistermärchen die Hand. Yonebayashi, der für Hayao Miyazakis „Chihiros Reise ins Zauberland“
(fd 36 002) zeichnete und für Miyazakis Studio Ghibli „Arrietty – Die wundersame Welt der Borger“
(fd 40 512) als Regisseur verantwortete, zelebriert hier keine einfach kompilierte Weltflucht – im Gegenteil. In seiner Welt fungieren die Geister der Vergangenheit als Katalysatoren für eine (noch) unbewältigte Lebenskrise.
Für einen Film, der sich nicht zuletzt aufgrund seines traditionellen, indes virtuosen 2D-Zeichenstils und seiner behutsamen Erzählweise auch für ein junges Publikum anbietet, ist die Verschränkung von Realem und Fantastischem eine Herausforderung. Auch die sich peu à peu offenbarende komplexe Familientragödie der kleinen Anna verlangt ein gutes Stück Abstraktionsvermögen. Doch wer sich auf den ebenso traurigen wie am Ende versöhnlichen und erhebenden Anime einlässt, erlebt eine aufregende, noch lange nachwirkende mutige Form des Geschichtenerzählens, wie sie in Filmen westlicher Provenienz selten zu sehen ist.