The Walk – der Spaziergang: Was für ein Understatement für ein Abenteuer, das so kein anderer Mensch zu Wege brachte. Gemeint ist der Franzose Philippe Petit, der am 7. August 1974 auf einem Drahtseil in 417 Metern Höhe zwischen den Zwillingstürmen des World Trade Center mehrmals hin- und herlief – und sich sogar rücklings auf den Draht legte, um eine Pause zu machen. Unfassbar, und natürlich stellt sich die Frage nach dem Warum. Ähnlich wie beim Bergsteigen ist hier die Herausforderung das Ziel, das Überschreiten von Grenzen, das Leben am Abgrund, das Erreichen des menschlich Unmöglichen. Mit der Nähe zum Himmel, aber auch mit der Nähe zum Tod wird der Drahtseilakt zum mythischen Happening, dem nichts gleichkommt, zum Kunstwerk, dem eine surreale Absurdität anhaftet: Der Seiltänzer ist vom Boden fast nicht zu erkennen, nur wenige Dutzend Zufallspassanten recken zu dieser frühen Stunde die Köpfe nach oben.
Bereits im Jahr 2008 hatte sich der britische Regisseur James Marsh im Dokumentarfilm „Man on Wire – Der Drahtseilakt“
(fd 39 095) dieses verrückten Coups angenommen. Er ließ Weggefährten und Helfer, aber auch Petit selbst zu Wort kommen und beschrieb minutiös die Vorbereitungen. Etwas problematisch kamen die inszenierten Szenen daher, die in Dokumentarspiel-Manier die letzten Stunden vor dem Drahtseilakt nachstellten. Das aber kann Robert Zemeckis, Hollywoods Mann für schwere, aber nicht unmögliche Fälle – von „Falsches Spiel mit Roger Rabbit“
(fd 27 150) über „Forrest Gump“
(fd 30 995) bis „Der Polarexpress“
(fd 36 790) –, natürlich besser.
Ein gut gelaunter Philippe Petit, dargestellt von Joseph Gordon-Levitt, steht in der Fackel der Freiheitsstatue, diesem symbolträchtigen Ort, und erzählt mit französischem Akzent seine Geschichte, die Zwillingstürme im Hintergrund. Die Rückblende beginnt in Schwarz-weiß im Paris der Nachkriegszeit, bis ein gespanntes Seil rot leuchtet und Philippe seine Leidenschaft fürs Seiltanzen entdeckt. Als Straßenkünstler verdient er sein erstes Geld, er weiß, dass ihm noch der letzte Schliff fehlt, und so begibt er sich in die Obhut von Papa Rudy, einem tschechischen Seiltänzer, der bei einem Zirkus arbeitet. Jede Unterrichtsstunde muss er dem alten, grantigen Mann abtrotzen. Doch Philippe wird immer virtuoser – bis er Rudy nicht mehr braucht. Es folgt das Husarenstück zwischen den Türmen von Notre Dame, dann ein Zeitungsbericht vom Bau des World Trade Centers. Petit fliegt nach New York, schleicht sich in verschiedenen Verkleidungen auf die riesige Baustelle, stellt eine bunt zusammengewürfelte Truppe internationaler Helfer zusammen und plant minutiös den großen Coup.
Trotz der Rückblende treibt Zemeckis die Geschichte linear voran. Die erste Stunde spielt in Paris, durch den flotten, manchmal frechen Erzählton werden Erinnerungen an „Die fabelhafte Welt der Amélie“
(fd 34 999) wach. Nach seinen Lehrjahren bei Papa Rudy steuert alles auf den „Spaziergang“ zu, der wie ein Banküberfall präzise geplant und durchgeführt wird. So mutiert „The Walk“ zum packenden Thriller, zum fesselnden Unterhaltungskino. Und dann lässt Zemeckis den Zuschauer nur noch staunen: 17 Minuten verbringt man zusammen mit Petit auf dem Seil, so die fast schon körperliche Kinoerfahrung, der man durch Motion-Capture und Computertricks gerne erliegt. In perfektem 3D schaut man fast einen halben Kilometer in den Abgrund, bis einem schwindlig wird. Ein Effekt, der bei IMAX-Vorführungen noch gesteigert wird. Selten hat 3D so viel Sinn gemacht. In diesen 17 Minuten wird „The Walk“ zum unvergesslichen Ereignis, das dem Zuschauer den Atem raubt. Selten hat man so sehr Angst gehabt um einen Kinohelden, selten hat man sich so sehr gefürchtet, mit ihm in die Tiefe zu fallen. So eine Erfahrung gibt es nur auf der Leinwand, und das ist die eigentliche Leistung von Zemeckis: Er gibt dem Kino seine Attraktion zurück.
Der 11. September 2001 wird auch hier nicht erwähnt, und doch ist er stets gegenwärtig. Am Schluss erhält Petit von New Yorks Bürgermeister eine Dauerkarte für die Besichtigung der Zwillingstürme. Das Verfallsdatum fehlt, stattdessen steht dort: „Forever“. Aber der Zuschauer weiß, dass dieses „Für immer“ mit jenem Tag abrupt endete.