Der Originaltitel des betörend durch die jüngere chinesische Vergangenheit treibenden Gangsterdramas „Asche ist reines Weiß“von Jia Zhang-ke lautet grob übersetzt „Kinder des Jiang Hu“. „Jiang Hu“ bedeutet so viel wie „Flüsse und Seen“, ist aber auch ein Pendant für wilde Regionen und der fiktive Ort vieler Wuxia-Geschichten. Ein Raum, auf den Qiaound Bin, das verlorene Liebespaar des Films, immer wieder Bezug nimmt, wenn sie betonen, dass sie außerhalb des Gesetzes nach eigenen Regeln leben würden.
„Jiang Hu“ als Ehrenkodex einer verschwindenden Welt. Auch der Film treibt wie ein Fluss dahin, mal reißend, mal sanft, mal tief, mal von kantigen Felsen durchsetzt, bis einem zusammen mit der Protagonistin Qiao klar wird, dass man nie zweimal in den gleichen Fluss steigen kann. Eigentlich bleiben die Gefühle gleich, aber gesellschaftliche und ökonomische Transformationen ändern alles.
Der Chronist des modernen Chinas
Jia Zhang-ke, der sich als herausragender Chronist des modernen Chinas etabliert hat und inzwischen aus dem System heraus erstaunlich unberechenbare Filme dreht, hat diesen Titel nicht willkürlich gewählt. Es geht ihm wie so oft um den Einfluss von Fiktionen. Bin (Liao Fan) und sein testosterongeladener Clan in Datong in der Provinz Shanxi leben zu Beginn in einer solchen Fiktion. Der Kohlebergbau, der die Region, aus der Jia Zhang-ke selbst stammt und in die seine Filme immer wieder zurückkehren, ernährt, steht vor dem Kollaps, aber die Männer spielen Gangster, als wären sie in einem US-amerikanischen Gangsterfilm – obwohl sie nicht einmal Schusswaffen besitzen dürfen und ihnen schon lange die letzten Felle davongeschwommen sind.
Mittendrin ist Qiao, von Zhao Tao trotzig-fragil verkörpert; ihre Fiktion ist von Anfang an die Liebe. Sie gibt sich dieser Liebe als widerstandsfähige Frau hin, bewahrt dabei eine erstaunliche Würde und muss doch erkennen, dass ihre Hoffnung auf die Zweisamkeit im „wilden China“ des Jahres 2001 eine Illusion war. Als Bin von einer Gruppe Jugendlicher brutal zusammengeschlagen wird, greift sie ein und schießt mit der illegalen Schusswaffe ihres Partners zweimal in die Luft. Es sind die einzigen Schüsse des Films. Sie werden lange nachhallen und unter der Oberfläche weiter brodeln.
Eine starke Frau, die sich nach Liebe sehnt
Zhao Tao hält alles im Film zusammen. Ihre Präsenz, die sich hier über drei Zeitebenen (die Jahre 2001, 2006 und 2018) erstreckt, erzählt von einem großen Land. Ihr Figur kämpft orientierungslos ums Überleben. In einer Szene schleicht sie sich auf ein Hochzeitsessen. Niemand bemerkt sie, als sie Nudeln in sich hineinschlingt. Wie ein Fremdkörper gegenüber den eigenen Traditionen klammert sie sich an etwas, was sie nicht erreichen kann. Das Paradox einer starken Frau, die nach Liebe sucht.
Sie will zu Bin, sie muss überleben. Sie hält den Kopf über Wasser. Gefangen zwischen Traditionen und Modernisierung, Romantik und Gewalt, Kitsch und Kälte. Vor allem aber machtlos vor dem, was möglich ist, und dem, was dann tatsächlich passiert. Dennoch entfaltet sich an ihrer Figur ein Angriff auf die patriarchalen Strukturen Chinas, denn es wird klarer und klarer, dass es Qiao ist, die den Laden schmeißt.
Zhao Tao ist ausgebildete Tänzerin und Ehefrau von Jia Zhang-ke. Sie hat in seinen Filmen schon oft grandios gespielt, aber hiererscheint es zum ersten Mal so, als würde sie den ganzen Film tragen. Das ist insbesondere bemerkenswert, weil der Film mehrfach wie eine Zusammenfassung der bisherigen Karriere des Regisseurs wirkt. Doch was bei einem Filmemacher wie Michael Haneke und „Happy End“ wegen dessen hohem Alter irgendwie noch nachvollziehbar erscheint, wirkt bei Jia Zhang-ke etwas merkwürdig.
Starke Bezüge zum eigenen Oeuvre
Tatsächlich nimmt sein zwölfter abendfüllender Spielfilm über die Maßen Bezug auf das eigene Oeuvre. So findet man sich mit Qiao auf einer ganz ähnlichen Reise durch die Region der Drei-Schluchten-Talsperre, wie man sie schon aus „Still Life“ kennt. Die Kleinganoven sind inzwischen dort und bauen. Strukturell erinnert der Film mit seinen drei Kapiteln eher an „Mountains May Depart“, wobei die Zeitebenen deutlich dringlicher zusammengehalten werden. Und dann gibt es eine Betonung der Einflüsse der westlichen Welt und der damit einhergehenden Fiktionen, die man schon aus Filmen wie „Unknown Pleasures“ kennt.
Diese Selbstreferenzialität zeigt vor allem an, dass auch Jia Zhang-ke in seiner eigenen Fiktion lebt. Er hat sie selbst aufgebaut, es ist eine eigene Welt, die parallel zur Entwicklung in China verläuft, aber auch nach eigenen Gesetzen lebt. Vielleicht ist diese Rückkehr zu den eigenen Motiven auch ein Hinterfragen des eigenen – männlichen – Blicks in den früheren Arbeiten. Gleich zu Beginn sieht man dokumentarische Bilder einer Busfahrt, die der Filmemacher vor 20 Jahren mit seiner Mini-DV-Kamera aufgenommen hat. Zu sehen sind einige Männer in einem Bus und dann ein schlafendes Mädchen am Fenster. Diese Bilder werden am Ende von Überwachungsbildern einer modernen Technologie gekontert. Mehr noch als an den gesellschaftlichen Wandel erinnern diese Bilder an den dokumentarischen Anspruch von Zhang-kes Fiktionen.
In langen, sachte atmenden Einstellungen (die Kamera führt zum ersten Mal Éric Gautier) ragt wiederholt eine dokumentarisch betrachtete Welt in die melodramatischen Genreversatzstücke. Der potenzielle, in Neonlichtern und mit aufwändigen Kamerafahrten bisweilen majestätische Gangsterfilm verschwindet hinter dem echten Leben. Man muss dabei an Roberto Rossellini denken. Das Leben hält nicht mit den Idealen mit. Daran kann man zerbrechen.
Qiao will immer weiter tanzen
Gangster sind im Kino oft die sensibelsten Figuren. Ein Blick in die Filme von Nicholas Ray reicht, um dessen gewahr zu werden. „Asche ist reines Weiß“lässt wenig subtil Gewalt und fehlende Liebe auf bedeutungsgeladene Lieder und Tanzperformances treffen. An einem Rand des emotionalen Spektrums erklingt der Song „YMCA“in einer Disco; ein legitimer Nachfolger von „Go West“, den Jia Zhang-ke in „Mountains May Depart“ eingesetzt hat; auf der anderen Seite gibt es ein Liebeslied, das Qiao zunächst auf der Straße und dann in einem Theater hört.
Durch diese Lieder und Tänze erzählt der Film nicht nur von kulturellen Einflüssen, sondern auch von menschlichen Begehrensmustern, die unter den gesellschaftlichen Strukturen begraben liegen. Außerdem treibt die fortlaufende Musik einen Wandel an. Es ist kein Zufall, dass Qiao immer weiter tanzen will, ständig zurück in die Musik driftet, bis es ganz still wird und nichts mehr da ist von dem, was einst war. Der Film balanciert dabei auf einem schmalen Grat zwischen Melancholie und Zukunftsdenken. Im Gegensatz zu früheren Filmen von Jia Zhang-ke handelt er aber offensichtlich mehr von dem, was war, als von dem, was sein wird. Ein großer Filmemacher hat hier einen Film in einer Sackgasse gemacht. Er lässt schmerzvoll offen, ob es für ihn oder seine Figuren eine Befreiung daraus gibt.