Auf der Arbeit wird er gemobbt. In den Augen seiner Kollegen entspricht er nicht dem Bild eines normalen Mannes. Fúsi ist nicht sportlich durchtrainiert. Fúsi schreitet nicht tatkräftig und aktiv durchs Leben. Schon gar nicht fällt er attraktiven Frauen auf. Enthaltsam lebt der schüchterne Mittvierziger immer noch zuhause bei Mama. Ist ein artiger Sohn. Geht bedächtig durchs Leben. Erträgt Gemeinheiten wie ein Fels in der Brandung. Und ist damit der Traum jedes Arbeitgebers. Penibel versieht Fúsi seinen Posten im Bodendienst eines Flughafens. Urlaub meldet er fast nie an, denn er weiß nicht wozu. Seine Freizeit wird von kindlichen Freuden ausgefüllt. Mit einem Freund steht er an einem Schlachtenmodell des Zweiten Weltkrieges und stellt den Sieg der Briten über das Afrikakorps von Rommel in El Alamein nach. In diesem Spiel lässt sich das Böse besiegen, denn der Sieg ist historisch verbürgt. Dergleichen gibt es in Fúsis Leben nicht. Bis er eine Frau, Sjöfn, kennenlernt, für die er sein gutes Herz öffnen will.
Der isländische Regisseur Dagur Kári setzt mit diesem Film nach „Dark Horse“ (2005, fd 37 416) und „Ein gutes Herz“ (2009, fd 40 177) seine Geschichten über Sonderlinge fort und erzählt das Entwicklungsdrama eines noch nicht erwachsen gewordenen Mannes. Aber er stellt sich auf dessen Seite. Denn es ist beileibe keine Welt, in die man als Zuschauer hineinwachsen möchte: Die Art von Erwachsensein, die der Antiheld um sich herum erlebt, ist kontaminiert von Ekel, Gewalt und dem Bestreben, den Anderen nach dem eigenen Bild zu formen und über ihn zu verfügen, wie es einem gerade gefällt; Fúsi soll ihr Gebaren überdies stets auch noch verzeihen. So will die dominante Mutter ihrem Sohn vorschreiben, wen er zur Frau nehmen darf, und zieht dabei soziale Abgrenzungslinien nach unten, weil dort angeblich das Primitive zuhause sei.
Aus der Sicht des Sohns offenbart sie damit aber eine gewisse Doppelmoral. Denn sie selbst vergnügt sich mit ihrem Lover auf eine Weise, durch die der Sohn das gleiche Trauma wie Sigmund Freuds „Wolfsmann“ erleidet. Dann doch lieber in einer Kinderwelt verharren und mit dem kleinen Nachbarsmädchen spielen. Zumal bei Kári das Kind, wie bei Wim Wenders in „Alice in den Städten“
(fd 18 848) oder „Im Lauf der Zeit“
(fd 19 715), die Welt noch unverstellt, ohne jeden falschen Hintersinn wahrnimmt und dadurch unbefangen die entscheidenden Fragen stellt. Das Kind sieht einfach, was ist. So will es wissen, weshalb Fúsi solo ist, während ihn die Erwachsenen einfach nur in ihr Modell hineinpressen wollen.
„Virgin Mountain“ malt Fúsis Tragik nicht in breiten, dick aufgetragenen Strichen. Wie sein Protagonist ist es ein bedächtiger, ruhiger, auch trotz seines trockenen Humors traurig-elegischer Film. Deshalb hält sich die Inszenierung beim Einsatz von Musik zurück, unterstreicht nur wenige dramatische Zuspitzungen. Sie spiegelt die Gefühle des Helden, wofür sie vor allem Montage und den Einsatz von Licht nutzt. Als Sjöfn über Fúsi herfällt und sich den Pullover über den Kopf reißt, springt der Film zum nächsten Morgen. Der Held erwacht in einem träumerischen Gegenlicht und schaut seine Geliebte intensiv an. So unterläuft der Regisseur stereotype Bilder und Geschichten, etwa voreilige psychologische Schlüsse über möglichen Pathologien des Antihelden. Dessen Gefühle deutet Gunnar Jónsson mit wunderbarem Mienenspiel an, das nur in ganz wenigen Momenten ein Lächeln kennt; der Regisseur findet dafür die passenden, lakonischen Bilder. Als ihm die Freundin bedeutet, dass Fúsi nicht bei ihr einziehen kann, steht ihm die Enttäuschung und Hilflosigkeit ins Gesicht geschrieben. Was soll er jetzt tun? Wenn er wieder in der Küche der Mutter sitzt und nach draußen sieht, weiß der Zuschauer, wie Fúsi sich fühlt. Nicht nur draußen tobt ein Schneesturm, in dem eine einzelne Straßenlaterne wie ein dünner Halm schwankt. Doch der Regisseur gewährt seinem Helden – wie einst Yves Yersin in seinem vergleichbar sensiblen Film – „Kleine Fluchten“
(fd 22 296). Die entpuppen sich dann aber doch als Riesensprung in die große, weite Welt.