Gerade mal fünf Jahre ist es her, dass man lesen konnte, wie im Ligusterweg, einer Reihenhaussiedlung irgendwo in England, ein seltsamer bärtiger Greis alle Laternenlichter löschte, sich in der Dunkelheit eine Katze in eine strenge Dame verwandelte und ein grobschlächtiger Riese auf einem Motorrad vom Himmel schwebte, um sanft ein Baby abzuliefern – ein ganz besonderes Baby mit einer blitzförmigen Narbe auf der Stirn. Millionen Menschen haben seither weltweit die Abenteuer jenes Harry Potter verschlungen, der als Elfjähriger erfährt, dass er ein Zauberer ist und ihm eine siebenjährige Schulausbildung in Hogwarts, dem Schloss der Magier und Hexen, bevorsteht. Vier Romane, die stets voluminöser, aber auch komplexer und „erwachsener“ wurden, sind bis heute über Harrys Schuljahre erschienen, und die Fangemeinde weiß nicht, ob sie jedem weiteren Band entgegen fiebern oder sich lieber ein späteres Erscheinen wünschen soll, weil nach dem siebten Buch die zahllosen Rätsel um Harrys Leben, seine Herkunft und Bestimmung endgültig gelöst sein werden. Joanne K. Rowling ist mit ihrem Harry-Potter-Zyklus allein schon dadurch eine phänomenale kulturelle Leistung gelungen, weil sie die Menschen wieder zum Lesen brachte. Wie aus einem Füllhorn speisen sich die endlosen Verweise, Bezüge und Reminiszenzen auf Märchen, Sagen und (Trivial-)Mythen der Literatur wie auch des Kinos, die Harry Potter als Seelenverwandten eines Frodo Beutlin („Herr der Ringe“) wie auch eines Luke Skywalker („Star Wars“) ausweisen. Wobei all diese Anspielungen nur selbstverliebtes Zitatenspiel blieben, wenn die Autorin nicht in typisch britischer, humorig-charmanter Lakonie stets genau den richtigen Ton treffen würde, um eine einfühlsame und glaubwürdige Initiationsgeschichte zu entwickeln: Harry Potter, der Außenseiter, der an den Rand gedrängte Waisenjunge, findet Schritt für Schritt seinen Platz im Leben und dies auf einem ebenso traumhaften wie mühevollen Weg voller Gefahren, Leid und Schmerzen, der ihn das rechte Maß aller (existenziellen) Dinge lehrt.
Die Verfilmung dieses populären Stoffs war nur eine Frage der Zeit, und man müsste schon ein arg dummer „Muggel“ (ein nicht-magischer Mensch) sein, wenn man nicht bereits im Vorfeld erahnt hätte, dass daraus ein ausgeklügelter Kommerzfeldzug der Filmindustrie werden würde, die sich anschickt, die Bucherfolge noch zu „toppen“. Während nach langem Warten nun der erste Harry-Potter-Film startet, wird bereits am nächsten gedreht und das dritte Drehbuch geschrieben – das „Projekt Harry Potter“ ist angelaufen, die Merchandising-Maschinerie arbeitet auf Hochtouren. Gemessen an solch erdrückendem Ballast kann man sich fast erleichtert in den Kinosessel zurückfallen lassen, um sich einem turbulenten und spannenden Unterhaltungsfilm hinzugeben, dessen überlange Laufzeit wie im Besenflug vergeht. Viele der äußeren Attraktionen des Buchs wurden exakt nach der literarischen Vorlage visualisiert: das Vorspiel im Ligusterweg, Harrys deprimierendes Leben bei den Dursleys, das bombastische Zauberschloss Hogwarts mit seinen zahllosen Zinnen, sich willkürlich verändernden Treppen und Geheimgängen. Auch das in der Hexen- und Magierwelt beliebte Ballspiel Quidditch wird dank modernster Computertechnik zum rasanten Spektakel, das den hohen physischen Einsatz der Spieler wie auch das wilde Tempo der Jagd nach dem goldenen Schatz spüren lässt. Atemlos, aber nicht hektisch rast die Geschichte von einem Höhepunkt zum nächsten, um den Fans ja nichts vorzuenthalten, wobei weder an Ausstattung noch an Details gespart wurde. Die von Hexen und Magiern frequentierte Winkelgasse, die sich inmitten des heutigen London quasi als Parallelwelt auftut, scheint in die Welt eines Charles Dickens zurückzuführen; die von Eulen, schwebenden Kerzen und überreich gedeckten Esstischen geprägte Festhalle in Hogwarts ist in ihrer Opulenz eine wahre Augenweide. Da der Film auch noch den Raum braucht, um Harry ebenso wie seine neuen Freunde Hermine und Ron, den Waldhüter Hagrid sowie die skurrilen bis rätselhaft-bedrohlichen Hogwarts-Lehrer einzuführen, bleibt schließlich kaum noch Zeit für die eigentliche Handlung: Harrys erste Konfrontation mit Voldemort, dem Verwalter der bösen Seite der Macht, der nach der Ermordung von Harrys Eltern seinen Körper einbüßte und sich nun eines der Hogwarts-Lehrer bedient, um an jenen magischen Stein der Weisen zu gelangen, der Unsterblichkeit verspricht. Harry, Hermine und Ron begreifen, dass es nur ihrer bis zur Selbstaufgabe unverbrüchlichen Freundschaft gelingen kann, Voldemort (vorerst) zurückzuschlagen – eine Erkenntnis, die schließlich über alle Zaubersprüche und magischen Flüche triumphiert und das erste Schuljahr in Hogwarts erfolgreich enden lässt.
Unübersehbar ist die fast ausschließlich an äußeren Attraktionen orientierte Kommerzialität des Films, für den es in keiner Sekunde in Frage kommt, vom Hauptpfad des Buchs abzuweichen, wobei er alle leiseren und subtileren Nebenwege der Vorlage pragmatisch kappt. Nur noch als vages Signal wird Harrys kindliche Wehmut, seine tiefe Sehnsucht nach Familie und Eltern zitiert, wobei man ihn bereits in diesem ersten Film als nahezu „fertigen“ Charakter präsentiert, dessen etwas allzu aufdringliches Lächeln skrupellos als „Trademark“ eingesetzt wird. Jede filmische Eigenständigkeit gegenüber der Romanvorlage scheut Regisseur Chris Columbus wie der Teufel das Weihwasser; lieber macht er sich zu deren „Sklaven“, als mit einem eigenen inszenatorischen Entwurf womöglich anzuecken. Nur winzige Augenblicke signalisieren so, welche filmische Kraft im Sujet gesteckt hätte: Wenn der einsame Harry zu Beginn sich selbst zum Geburtstag gratuliert, die Umrisse einer Torte in den Staub malt und beim Auspusten der Kerzen seine Wünsche ebenfalls in alle Winde zerstieben, dann spürt man etwas von der poetischen Potenz des Stoffes, ebenso wie in jenen nur beiläufig gezeigten Hogwarts-Gemälden, in den ein eigenes, in doppeltem Sinn bewegtes Leben schlummert. So wurden der überbordenden Fabulierfreude der Romanvorlage deutlich Zügel angelegt; nur noch die zitaten-, bis zum Plagiat anspielungsreiche Musik John Williams’ signalisiert, dass „Harry Potter“ eigentlich ein krakenarmiger Fantasie-Kosmos ohne Grenzen ist. Gerade dieses Manko des Films wird freilich den Leseratten Auftrieb geben: Die narrative Fabulierkunst und -lust bleibt den Büchern vorbehalten.