Energisch schreitet Alma durch das wilde Kükengewusel zu ihren Füßen, wobei das eine oder andere Tier auf der Strecke bleibt. Ähnlich wie auf der Hühnerfarm sieht es auch mit der spanischen Gesellschaft aus: Die Folgen der Finanzkrise haben Spanien fest am Wickel und jede Gewissheit von oben nach unten gekehrt. Die etwa 20-jährige Alma ist eine der wenigen, die sich von den ungewissen Aussichten auf eine bessere Zukunft die Freude am Leben noch nicht vermiesen lassen wollen. Telefonstreiche, Disco-Ausflüge und One-Night-Stands helfen jedoch auf lange Sicht auch der jungen Frau nicht, ihre innere Leere zu verbergen. Die Beziehung zu ihrem Vater und ihren Onkeln ist vergiftet, seit diese vor Jahren den Familien-Bauernhof mit Spekulationen an den Rand des Ruins getrieben haben, und auch mit ihrem geliebten Großvater kann sie nicht mehr umgehen wie früher. Dem geht mit zunehmender Altersschwäche der Ausverkauf des Hofs immer deutlicher nah, besonders der Verkauf seines Lieblings aus dem hofeigenen Olivenhain: ein jahrhundertealter Baum, den schon die Römer gepflanzt haben sollen, der aber von seinen Söhnen verkauft wurde, um deren Flausen von einem Strandrestaurant zu finanzieren. Nun ziert er Foyer und Logo eines deutschen Energieunternehmens. Als es dem Großvater immer schlechter geht, verfällt seine Enkelin auf einen waghalsigen Plan: Sie bricht nach Deutschland auf, um den Baum irgendwie wieder nach Spanien zurückzuholen.
Die spanische Regisseurin Iciár Bollaín und ihr Drehbuchautor Paul Laverty nutzen die Finanzkrise als Ausgangspunkt, um die Befindlichkeit der spanischen Gesellschaft nach dem Debakel auszuloten. Katzenjammer, Aggressionen und wilder Aktionismus prägen den Umgang, durch die Familien führt ein tiefer Graben. Lediglich bei den Jüngeren macht der Film so etwas wie Trotz aus und den Wunsch, sich nicht länger mit der Misere abzufinden. Was freilich wie im Fall der jungen Protagonistin zunächst wenig zielgerichtet ausfällt und auch im Verlauf der Geschichte immer wieder zu Momenten der Verzweiflung führt. Effektvoll kontrastiert »El Olivo« Almas Unsicherheit mit einer Rückblende in eine paradiesisch wirkende Kindheit: Sonnenhell, musikalisch beschwingt untermalt und mit einer rhythmisch gleitenden Montage wird vorgeführt, wie Alma als Mädchen und ihr Großvater glücklich zwischen den Olivenbäumen umherwanderten und er ihr am gewaltigsten Exemplar die Liebe zur Natur lehrte. Dann der Schock: Trotz seiner eindrucksvollen Größe und Pracht wird der doch scheinbar für die Ewigkeit gepflanzte Baumriese ausgerissen und damit zugleich das Band der über Jahrhunderte weitergegebenen Traditionen gekappt. Mit dem Bild des in der Luft baumelnden Kolosses endet der Rückblick, und der Film kehrt für seine restliche Dauer in die Gegenwart zurück, in der alle alten Gewissheiten verloren gegangen sind: Die älteste Generation ist in Trauer um die Vergangenheit versunken, die mittlere laboriert an Gewissensbissen und hat die enttäuschten Hoffnungen aus den Zeiten des Booms noch nicht verkraftet, die Jüngsten schließlich suchen inmitten des moralischen Scherbenhaufens nach ihrem Platz im Leben.
Aus dem Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Generationen bezieht »El Olivo« einen Großteil seiner Spannung, wobei vor allem Alma und ihr von Minderwertigkeitskomplexen geplagter Onkel Alcachofa markant die Gespaltenheit der spanischen Gesellschaft verkörpern. »Das ganze Land belügt sich selbst«, heißt es einmal prägnant. Icíar Bollaín versagt sich aber vereinfachende Schuldzuweisungen: Weder verteufelt sie die Hybris von Spekulanten wie Almas Vater und Onkeln noch wird der globale Kapitalismus als triviales Feindbild heraufbeschworen. So sehr die Krise ein gesellschaftliches Problem ist, so sehr erscheinen ihre Auswirkungen stets vom individuellen (Fehl-)Verhalten der Hauptfiguren abhängig.
Daraus erwächst dann freilich auch die Chance auf eine Änderung des Status quo. Die adoleszente Energie, die Alma von Beginn an ausgestrahlt hat, fließt in ihren etwas abenteuerlichen Plan und dessen Ausführung hinein. Der Film wandelt sich zum humorvollen Road Movie, bei dem Alma, ihr temperamentvoller Onkel und der stille LKW-Fahrer Rafa ein wunderbar gegensätzliches Trio abgeben und unerwartete Solidaritätsbekundungen erfahren, die von der Chance auf einen Neubeginn künden. Zwar wird diese Aufbruchsstimmung nicht ganz ohne Dämpfer bleiben, doch setzt »El Olivo« ein deutliches Zeichen der Hoffnung: auf den Willen zur Veränderung, mit dessen Hilfe Dinge, die zerrissen worden sind, vielleicht wieder geheilt werden können.