Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht
Heimatfilm | Deutschland/Frankreich 2013 | 230 (24 B./sec.)/221 (25 B./sec.) Minuten
Regie: Edgar Reitz
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland/Frankreich
- Produktionsjahr
- 2013
- Produktionsfirma
- ERF - Edgar Reitz Filmprod./Les Films du Losange
- Regie
- Edgar Reitz
- Buch
- Edgar Reitz · Gert Heidenreich
- Kamera
- Gernot Roll
- Musik
- Michael Riessler
- Schnitt
- Uwe Klimmeck
- Darsteller
- Jan Dieter Schneider (Jakob) · Antonia Bill (Jettchen) · Maximilian Scheidt (Gustav) · Marita Breuer (Margarethe) · Rüdiger Kriese (Johann)
- Länge
- 230 (24 B.
sec.)
221 (25 B.
sec.) Minuten - Kinostart
- 03.10.2013
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Heimatfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
In einer der augenzwinkerndsten Sequenzen dieses Films rumpelt eine Kutsche einen Feldweg entlang. Darin ein weltgewandter, vielgereister Gelehrter: Alexander von Humboldt, gespielt von Werner Herzog. Also von jenem deutschen Regisseur, dessen Schaffen schon früh wegstrebte von Deutschland, hinaus in die Welt, gerne auch in zivilisatorische Randzonen. Herzog-Humboldt hat sich aufgemacht, um ausgerechnet in Schabbach einen Bruder im Geiste zu besuchen. Jakob Simon hat zwar die Grenzen seines Dorfes im Hunsrück nie weit hinter sich gelassen, mit seinem neugierigen Forschergeist via Briefkorrespondenz aber die Aufmerksamkeit des berühmten Reisenden auf sich gezogen. Als Humboldt leibhaftig vor ihm steht, ist Simon allerdings so von seiner Ehrfurcht für den prominenten Brieffreund eingeschüchtert, dass er die Flucht ergreift.
Eine liebevollere Hommage als die, die sich Reitz, der Heimat-Filmer, und Herzog, der grenzgängerische Abenteurer, hier gegenseitig bringen, lässt sich schwer vorstellen. Dass allgemein ein bisschen Herzog in „Heimat“ zu stecken scheint, liegt indes nicht nur an diesem Cameo-Auftritt, sondern auch an Reitz’ Konturierung von Schabbach im mittlerweile vierten Film dieses monumentalen Erzählprojekts. „Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht“ spielt ausschließlich im und um das fiktive Hunsrückdorf, trotzdem drängt der Film ständig über diese eng gesteckte Grenze hinaus: Dass jenseits der vertrauten Fachwerkhäuser und Felder eine ganze Welt wartet – dieses Wissen tragen die Figuren immer mit sich herum, und es sorgt für eine permanente Spannung. Der Grund dafür: Das Medium Schrift, das in dem Film eine wichtige Rolle spielt.
Die Bildungsreform, für die Alexanders Bruder Wilhelm von Humboldt steht, hat im Schabbach der 1840er-Jahre offensichtlich unruhige Früchte getragen; Bücher, Briefe, Zeitungen informieren die gar nicht tumben Bauern und Handwerker darüber, was in der Welt vor sich geht – und eröffnen eine neue Möglichkeitswelt: Gehen oder Bleiben? Früh im Film erfährt man, dass die Verwurzelung mit ihrem Stückchen Erde für viele Hunsrücker nicht mehr stark genug ist, um sie zu halten: Jakob Simon, die Hauptfigur, beobachtet von einem Felsen aus, wie unter ihm im Tal Wagenkolonnen vorbeifahren, die Auswanderer an die Küste bringen. Das Land ernährt seine Leute so schlecht, und das Regiment der preußischen Obrigkeit ist so hart, dass immer mehr Menschen ihr Heil in der Emigration nach Amerika suchen.
„Heimat“ und „Sehnsucht“: die Engführung dieser beiden für die deutsche Romantik so zentralen Begriffe im Titel kommt nicht von ungefähr: Dieses „Prequel“ der „Heimat“-Trilogie führt nicht nur in die Epoche der Spätromantik und des Vormärz zurück, sondern greift auch Themen auf, wie sie einem in der romantischen Literatur begegnen: das Fernweh nach einer „Horizonterweiterung“ (sei es durchs Reisen, sei es durch die Liebe), das Leiden an beengten bürgerlich-bäuerlichen Lebensverhältnissen, auch den Enthusiasmus für die Ideale der französische Revolution.
Angesichts der Figur von Jakob Simon fühlt man sich ein wenig an Eichendorffs „Taugenichts“ erinnert: Der junge Mann befindet sich in ständigem Clinch mit seinem Vater, weil er bei jeder Gelegenheit der Arbeit in der Schmiede entflieht, um sich in seinen Büchern zu vergraben und wegzuträumen in eine andere Welt. Sehnsuchtsziel ist für ihn aber nicht wie für Eichendorffs schwärmerischen Künstler ein verklärtes Italien der Kunst und der Liebe. Simon verschlingt in den geistigen Fußstapfen der aufklärerischen Naturforscher Reiseberichte aus der „Neuen Welt“. Vor allem Südamerika hat es ihm angetan: Er studiert den Kontinent und seine Völker, macht sich mit Tier- und Pflanzenwelt vertraut und bemüht sich sogar, sich die Sprachen der Indios anzueignen. Doch wird er seinem Fernweh Taten folgen lassen und wie viele seiner Nachbarn anderswo eine andere Heimat suchen? Das ist zwar Jakobs Ziel – doch werden Schabbach und die Simons ihn loslassen? Und kann er sie loslassen?
Was Reitz in rund vier Stunden entfaltet, ist ein fulminantes Familienepos, in dem die Auseinandersetzung mit einer konkreten Epoche deutscher Geschichte Hand in Hand mit universellen Themen geht. Im Schicksal der Simons – neben Jakob sein Bruder Gustav, sein Vater Johann und seine Mutter Margarethe (gespielt von Marita Breuer, die in der ersten „Heimat“ ebenfalls schon eine Simon-Mutter verkörperte) – im Lieben und Leiden, Gebären und Sterben, in Erfolgen und vor allem in vielen Krisen geht es dabei nicht zuletzt um die Frage nach der Vereinbarkeit zwischen heimatlicher Sicherheit und Freiheit: politisch in Bezug auf das Verhältnis der Hunsrücker Bürger zur Obrigkeit einige Jahre vor 1848, geistig in Bezug auf innere Entfaltungsmöglichkeiten, persönlich im Verhältnis von Eltern und Kindern, Männern und Frauen. Dem Film gelingt sowohl visuell als auch sprachlich eine grandiose Balance zwischen konkreter Sinnlichkeit und Stilisierung. Das gilt für die wunderbar ausgearbeitete sprachliche Ebene, die sowohl durch einen abgemilderten Dialekt (in den Dialogen) als auch durch einen der Literatur des 19. Jahrhunderts angenäherten Erzählgestus (in den aus dem Off eingelesenen Tagebuchaufzeichnungen Jakobs) der regionalen wie historischen Verortung Rechnung trägt, und es gilt für die visuelle Gestaltung, die authentische Stofflichkeit und künstlerische Überhöhung harmonisch zusammenführt: Der Ort Schabbach ist hier das Produkt der Überbauung einer echten, gewachsenen Dorfstruktur (des Örtchens Gehlweiler) mit altertümlichen Fassaden; die Wahl von ästhetisierendem Schwarz-Weiß entfernt die Bilder gleichwohl von dem Blut-und-Dreck-Realismus, wie man ihn aus Filmen wie „Die Päpstin“ (fd 39 554) kennt. So gelingt Reitz wahrhaft großes Kino, das im Kontext seiner Tetralogie, indem es sich am deutschen Mythos Heimat abarbeitet, selbst mythische Qualitäten hat.