„Ich will meine Augen nicht schließen, ich will sie immer offen halten.“ Das sagt Edith, die Heldin, relativ früh. Sehen und Wegsehen, der Blick auf die Tatsachen und auf das, was nicht sofort ins Auge springt, und im weiteren Sinn: die Dialektik von Wahrheit und Täuschung, Enthüllung und Verhüllung, und überhaupt diverse optische Metaphern bilden ein zentrales Leitmotiv in „Crimson Peak“. Edith trägt eine Brille, und gerade im ersten Drittel des Films sieht man die junge Einzelgängerin, die gebildet und begabt in der männerdominierten Welt um 1900 als Schriftstellerin reüssieren will, oft ihre Augen reiben. Einer der zwei Männer, die um sie werben, der ruhige Alan, ist Augenarzt. Das Familienmotto des anderen, des schottischen Baronet Thomas, lautet: Zu den Bergen erheben wir unsere Augen. Es geht immer wieder um den Willen zum Hingucken, also zum Wissen. Dazu gehört das Sehen von Dingen, die anderen verborgen bleiben, von Geistern etwa. „Geister gibt es wirklich“, ist Edith überzeugt, seit sie als Kind die Mutter verloren hat, und in der ersten Szene bekommt sie „Besuch“ von der Toten. Alles Geschehen ist da in den weit aufgerissenen Augen. Die Geschichten, die sie schreibt, sind Geistergeschichten, und so verbindet diese Edith völlig konfliktfrei aufklärerisches Wahrheitsstreben mit gegenaufklärerischem Geistersehen – wie vielleicht alle „Gothic Tales“, alle Schauerromane seit der Spätaufklärung, von Walpole und Shelley bis zu Hoffmann und Poe.
Eine Schauergeschichte in altem Stil – Guillermo del Toro gelingt es, den Eindruck zu erwecken, als könne die Vorlage auch aus dem späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert stammen. Der Plot ist einfach: Edith lebt mit ihrem Vater in Buffalo. Eines Tages taucht dort der schottische Adelige Thomas Sharpe auf. Knapp bei Kasse, hat er es auf die Hand der Fabrikantentochter abgesehen, und mit seiner charmanten, gewinnenden Art wickelt er die junge Frau um den Finger. Ihr Vater hegt zwar großes und (wie das Publikum früh weiß) begründetes Misstrauen, doch nach dessen gewaltsamem, aber unaufgeklärtem Tod nutzt Thomas die Gunst der Stunde und heiratet Edith. Beide ziehen in den Stammsitz der Familie, ein heruntergekommenes, einsames Schloss in den Highlands, wo das Paar gemeinsam mit Thomas‘ unnahbarer Schwester Lucille leben soll. Doch dieses Leben entpuppt sich als Albtraum: Das Schloss ist unübersichtlich, verwunschen, voller Geheimnisse und verschlossener Kammern und entfaltet ein düsteres Eigenleben: Es atmet und blutet, und nachts tauchen Geister seiner Vergangenheit auf und scheinen Edith zu warnen. Die Gefahr ist konkret: Die Geschwister planen, Edith aus Habgier zu ermorden – der „Feuerbeeren-Tee“, den sie fortwährend zu trinken erhält, ist vergiftet. Zunehmend zweifelt Edith an ihrem Gatten, und weitere schreckliche Geheimnisse werden enthüllt.
In kräftige, barocke Bilder taucht del Toro diese Story. Alles ist satt, überladen, es krabbelt auf den Wänden, es knarzt in ihnen, es tropft und kleckert von den Decken. Dieses liebevolle Set-Design wird ergänzt durch ausgeklügelte Farb-Dramaturgie. Schwarz-weiß-Kontraste, weitergeführt in der Gegenüberstellung einer blonden und einer schwarzhaarigen Frau, für die del Toro mit der ätherischen, kindlich-weichen Mia Wasikowska und der handfesten, seit jeher immer eine Spur zu harten Jessica Chastain die Idealbesetzung gefunden hat, sind das eine. Zentral ist die Verwendung der Farbe Rot. Sie steht hier eher für Wärme und Leben als für Bedrohung, doch auch der vergiftete Tee ist scharlachrot, ebenso wie der flüssige Ton der Erde, die durch den Boden regelmäßig in das Schloss eindringt – ein Symbol der unaufhaltsamen Wiederkehr des Verdrängten.
Hiervon, wie vom blutigen Reifeprozess einer jungen Frau, erzählt del Toro, so ruhig und gleichmäßig, zwingend, ohne je die Spannung zu verlieren, wie hier Walzer getanzt wird. Im Unterschied zu „The Devil’s Backbone“
(fd 35 766) und „Pans Labyrinth“
(fd 38 028) bleibt der Film auf dem vertrauteren Terrain des „Haunted House“-Genres. Wenn auch alles eine Spur zu kontrolliert wirkt, um ganz in Bann zu ziehen, bleiben Leidenschaft und Empathie des Regisseurs hier jederzeit spürbar. „Die Liebe“, heißt es im Pilot zu seiner Fernsehserie „The Strain“, sei „unsre Gnade und unser Untergang“. Das gilt auch für die Hauptfiguren dieses Films.