Adèle gilt als „gefräßig“; zumindest sagt ihr das Emma, ihre Geliebte, einmal. Adèle zeigt tatsächlich einen gesteigerten Appetit: beim Essen von Spaghetti gibt sie laut schmatzende Geräusche von sich, und als sie einmal in Tränen ausbricht, zieht sie umgehend eine Kiste mit Süßigkeiten unter dem Bett hervor, um sich mit einem Schokoladenriegel zu trösten. Es gibt in „Blau ist eine warme Farbe“ einen ziemlich nahtlosen Übergang von kulinarischem Genuss und sexuellem Begehren, wobei die Adèle zugeschriebene Gefräßigkeit auch eine Eigenschaft des Films ist. Denn der französische Regisseur Abdellatif Kechiche nähert sich seiner Hauptfigur bevorzugt in hemmungslos in Besitz nehmenden Einstellungen und Close-Ups, die sie fast verschlingen. Besonders ihr Mund hat es Kechiche angetan: Adèles offen stehender staunender und lächelnder, ihr schmatzender, mampfender, küssender, saugender und schluchzender Mund.
„Blau ist eine warme Farbe“ ist die Verfilmung der gleichnamigen Graphic Novel von Julie Maroh. Es ist die Geschichte einer ersten, erschütternd heftigen Liebe und des sexuellen Erwachens. Zu Beginn des Films ist Adèle ein 15-jähriger Teenager. Im Französischunterricht wird eine Textstelle aus „La vie de Marianne“ von Marivaux besprochen, es geht um den „coup de foudre“, um die Liebe auf den ersten Blick – etwas, das sie kurz darauf selbst erfährt, als sie auf der Straße im Vorbeigehen einer Frau mit kurzen, blau gefärbten Haaren begegnet. Nach einem glücklosen Zwischenspiel mit einem Jungen aus ihrer Schule und der Verwirrung, die der Kuss einer Mitschülerin auslöst, trifft sie Emma wieder. Die beiden werden ein Paar, ziehen zusammen, einige Jahre später trennen sie sich.
Kechiches Film ist sensualistisches Erlebniskino, authentizistisch bis zum Anschlag, mitreißend und toll in vielen Momenten – so toll sogar, dass man die Probleme, die der Film eben auch hat, lieber ignorieren würde. In geradezu exzentrisch unmittelbarer Weise lässt der Film an Adèles Erfahrungen und emotionalen Temperaturen teilhaben – an ihrer Traurigkeit und Freude, ihrer Sehnsucht, ihrer Verwirrung und Lust. Selten auch hat man im Kino Figuren bei alltäglichen und weniger alltäglichen Dingen so fokussiert beobachten können: wie jemand schaut, geht, rennt, schläft, isst, errötet, küsst, sich die Haare aus dem Gesicht streicht, Rotz und Wasser heult.
Am überzeugendsten aber ist der Film dann, wenn Kechiche es gar nicht so offensichtlich auf Intensitäten anlegt, sondern nicht viel mehr tut, als eine Stimmung einzufangen. Eine der schönsten Szenen des Films zeigt Adèles Geburtstagsparty im Garten ihrer Eltern. Die Erzählung tritt zurück und macht Platz für den bloßen Augenblick: Adèle tanzt, die Kamera hält ein wenig Abstand und zeigt sie in ihrer Umgebung – in der Verbindung zu ihrer Umgebung und wie sie zwischendrin in sich selbst zurückfällt, für sich ist.
Wesentlich forcierter geht Kechiche vor, wenn es um Klasse und Sex/Körper geht. Mit der ersten richtigen Begegnung zwischen Adèle, die eine Ausbildung als Lehrerin machen wird, und der einige Jahre älteren Kunststudentin Emma tut sich ein tiefes bildungsbürgerliches Gefälle auf, an dem die Beziehung schließlich auch scheitert. Kechiche findet dafür allerdings eher schematische Szenen, wenn er etwa das erste gemeinsame Essen (Austern) bei Emmas Mutter und ihrem rotweinkennerhaften Partner mit einem Abendessen bei Adèles Eltern kontrastiert (Spaghetti Bolognese), die der Freundin mit den blauen Haaren ihre kleinbürgerlichen Ansichten über die Notwendigkeit eines soliden Berufs unterbreiten. Adèle bleibt bis zuletzt ein Gast in Emmas Welt – die Freunde reden ständig über Egon Schiele und Gustav Klimt, bleiben aber eigentümlich stumm, wenn sie von ihrer Lehrerinnenausbildung erzählt. Auch die stockkonservative Rollenverteilung innerhalb der Beziehung geht irgendwann nach hinten los: während Emma versucht, ihre Karriere als Malerin voranzubringen, steht Adèle in der Küche oder posiert der Künstlerfreundin als Modell. Kechiche entwirft sie im Grunde als die klassische (heterosexuelle) Muse.
Ähnlich unüberlegt behandelt Kechiche die Repräsentation des weiblichen Körpers. Die ganz eindeutig auch (aber nicht nur) pornografischen Sexszenen (Nahaufnahmen, fragmentierte Körper) mögen gefallen oder nicht, als ästhetisch oder zu explizit wahrgenommen werden: an ein lesbisches Publikum adressiert sind sie sicherlich nicht. Und sie sind für sich genommen auch nicht transgressiv, auch wenn ihre Extensivität innerhalb eines Erzählfilms natürlich unkonventionell ist. Das eigentliche Problem ist jedoch eher, mit welch essenzialistischen Untertönen Kechiche von der lesbischen Liebe erzählt. Bei einer Party schwafelt ein Galerist völlig unwidersprochen von der Einzigartigkeit der weiblichen Sexualität und der Mystik des weiblichen Orgasmus: „Eure Augen schauen ins Jenseits“, sagt er. Das Selbstverständnis gleichgeschlechtlicher Beziehungen, das der Film die ganze Zeit zu behaupten vorgibt, wird in diesen Momenten regelrecht untergraben. Irgendwie ist die Frau hier doch wieder ganz klassisch das „Andere“, ein großes Geheimnis.