Die Orte sind liebevoll ausgesucht, die Sets fantasievoll gestaltet, die Computeranimationen mit Bedacht eingesetzt und das Personal skurril gezeichnet. In Jean-Pierre Jeunets „Die fabelhafte Welt der Amélie“ wimmelt es von wundervollen Bildern, und es fällt schwer, eine Schlüsselszene auszumachen, die normalerweise das Davor und das Danach in einem Film erschließt. Nach 122 Filmminuten verlässt man das Kino in Gedanken an die wunderschönen Kulleraugen der 23-jährigen Audrey Tautou („Schöne Venus“, fd 34 173), deren Ponyfrisur ein wenig an ein französisches Schlagersternchen erinnert. Vergeblich versucht man die fabelhaften Bilder einzuordnen. Jean-Pierre Jeunet entfacht einen wahren Bildersturm, der seinesgleichen sucht. Kaum auszudenken, wie Emily Watson („Breaking the Waves“ fd 32 145), die ursprünglich für die Rolle der Amélie vorgesehen war, als naive Pariser Kellnerin gewirkt hätte. Das Drehbuch schrieb Jean-Pierre Jeunet der Britin gewissermaßen auf den Leib. Doch Emily Watson sagte in letzter Sekunde ab. So kam Audrey Tautou zu der Rolle. Tatsächlich entspricht die äußere Erscheinung der Französin der „corporate identity“, dem „Look“ des Films viel mehr als die für ihre natürliche Ausstrahlung bekannte Britin.
Amélie arbeitet in einer kleinen Bar im Pariser Stadtteil Montmartre. Sie spricht kaum und verbringt die meiste Zeit ihrer Freizeit träumend, was mit ihrer schwierigen Kindheit zusammenhängt, die einige aufschlussreiche Rückblenden skizzieren. Der Vater, ein Arzt, sprach mit seiner Tochter nur, wenn er das Kind mit dem Stethoskop untersuchte. Die Mutter fand vorzeitig ein kurioses Ende. Das Drehbuch ist voll gestopft mit Ideen, die locker für drei Filme gereicht hätten. Da macht ein Gartenzwerg mit Postkarten von einer Weltreise Furore. Eine Parallelmontage zerstückelt einen bedeutsamen Augenblick. Da wölbt sich auf einer Caféhausterrasse ein Tischtuch im Wind und versetzt die zurückgelassenen Weingläser in einen magischen Tanz, da rechnet ein Mann die Kosten für eine Bestattung zusammen, da trifft in einer pseudowissenschaftlichen Großaufnahme ein Sperma auf eine Eizelle, und eine Off-Stimme erklärt, dass all das im Moment von Amélies Zeugung geschah. Zu Amélies fabelhafter Welt gehört natürlich auch ein Liebesabenteuer, das hier allerdings zur schönsten Nebensache der Welt mutiert, in Gestalt von Mathieu Kassovitz als Nino Quincampoix. Als Amélie eine alte Blechdose mit Spielsachen findet, verhilft sie einem Mann auf der Straße, dem Besitzer der Schachtel, zu sentimentalen Gefühlsregungen, und entwickelt sich zu einer guten Fee. So führt sie eine Angestellte aus ihrer Bar mit einem Stammkunden zusammen und spielt dem Gemüsehändler, der seinen Gehilfen schlecht behandelt, üble Streiche. „Z“ für Zorro malt die für Sekundenschnelle als Mantel- und Degenheldin Verkleidete an die Tür ihres Opfers.
Trotz solcher Einfälle ist das Personal nicht so skurril gezeichnet, wie man es aus Jeunets düsteren Filmen „Delikatessen“
(fd 29 487) und „Die Stadt der verlorenen Kinder“
(fd 31 468) kennt. In „Amélie“ sind die Charaktere unterschiedlich stark karikiert und sprühen nur so vor Lebensklugheit. Ein Nachbar beispielsweise, der an der Glasknochenkrankheit leidet, hat seit über 20 Jahren die Wohnung nicht mehr verlassen und kopiert jedes Jahr Renoirs „Das Frühstück der Ruderer“. „Nutze deine Chancen“, ermuntert er die einmal mehr verzagte Amélie, „sonst vertrocknest du wie die Knochen meines Skeletts.“ Der arme Autor, der gelegentlich durchs Viertel schleicht, gibt ebenfalls philosophisch gefärbte Ratschläge. Unter anderen den: „Das Leben ist eine Probe für eine Aufführung, die niemals stattfindet.“ Trouvaillen dieser Art sind Jeunets Co- und Dialogautor Guillaume Laurant zu verdanken. Jean-Pierre Jeunets Filme sind geprägt von ausgesprochener Künstlichkeit. Umso mehr verwundert, dass er erstmals „on location“ gedreht hat. Allerdings hat er Paris, die Stadt der Liebe, stark geschminkt. Auf den Straßen wurden Autos weggeräumt, störende Plakate überklebt und die digitale Postproduktion hat Ecken und Kanten zurechtgebogen. In einer Rückblende, als Amélie als Kind einen Fotoapparat geschenkt bekommt, nehmen die Wolken über Paris die Form von Teddybären und Hasen an. Solche Effekte kommen reichlich zum Einsatz: Einmal zerfließt Amélie zu einer schwappenden Pfütze - vom Liebeskummer bildlich weggespült.
„Die fabelhafte Welt der Amélie“ ist ein Beispiel dafür, dass sich die deutsch-französische Freundschaft auf dem Gebiet des Films stark verändert hat. Köln Ossendorf verzeichnet für den Film 23 Drehtage und die Filmstiftung NRW eine Verleih- und Vertriebsförderung in Höhe von zwei Millionen Mark. In Deutschland sei dem Film ein ähnlich großer Erfolg vergönnt wie in Frankreich. Jean-Pierre Jeunet wollte einen fröhlichen, heiteren Film machen, der die Leute zum Träumen bringt und ihnen Vergnügen bereitet. Mit diesem turbulenten Bildermärchen ist ihm das zweifelsfrei gelungen.