Fremde Ufer

Dokumentarfilm | Deutschland 1996 | 94 Minuten

Regie: Volker Koepp

Der Dokumentarist Volker Koepp kehrt erneut nach Ostpreußen zurück. Sensibel erzählt er von vier rußlanddeutschen Schwestern, die gemeinsam in Kasachstan aufwuchsen und nun in alle vier Winde zerstreut sind. Dabei kreist der Film um das Thema Heimat und Fremde und um den Versuch, neue Wurzeln zu schlagen. Er deutet auch an, weshalb es viele Menschen aus Rußland hinaustreibt: ärmliche Lebensverhältnisse, karger Lohn, instabile politische Verhältnisse. Dies wird vor allem durch Bilder transparent; der Kommentar ist äußerst sparsam eingesetzt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Brandenburger Filmbetrieb
Regie
Volker Koepp · Michael Elle
Buch
Volker Koepp · Michael Elle
Kamera
Uwe Mann
Schnitt
Angelika Arnold
Länge
94 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Wo ist Heimat? "Zu Hause ist da, wo der warme Ofen steht", sagt Olga und knetet Teig für Pelmeni. Sie lebt in Uljanowo, einem Dorf in der Nähe von Sowjetsk, das früher Tilsit hieß und zur deutschen Provinz Ostpeußen gehörte. Heute ist die Gegend eine russische Enklave zwischen Litauen und Polen. Ein herber, idyllischer Landstrich, in dem die Kühe im Fluß baden und sich die Störche auf den Dächern der Katen niedergelassen haben. Auch Olga, ihr Mann und ihre beiden Kinder bauen sich ein Nest: Stolz zeigt die Frau die Grundmauern des Hauses, erklärt, wohin welche Zimmer kommen und wo das Vieh untergebracht werden wird; denn: "Ohne Stall gibt es hier kein Leben."

Der Dokumentarist Volker Koepp hatte Olga kennengelernt, als er seinen großen dreistündigen ostpreußischen Bilderbogen "Kalte Heimat" (fd 31 619) drehte: Begegnungen mit Menschen unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Alters. Jetzt konzentriert er sich ganz auf die Familie der Frau, genauer: auf Olga und ihre drei Schwestern. Aufgewachsen waren sie gemeinsam in Kasachstan, doch ihre Wege haben sich längst getrennt. Koepp beginnt seinen Film nach einer kurzen Natur-Ouvertüre mit einem symbolischen Bild: Olga erwartet das erste Treffen der Schwestern nach elf Jahren; sie verziert eine Torte mit roten, orangenen und gelben, sehr chemisch anmutenden Sahnerosen. Ein Motiv, das für die Sehnsucht nach einer harmonischen Gemeinschaft steht, aber zugleich signalisiert, daß diese - für ein paar Stunden geplante - Harmonie etwas künstlich Geschaffenes sein wird, nicht mehr der Natur der Dinge entspricht.

Olga und ihre Schwestern sind Rußlanddeutsche. Aber nur Olga ist in Rußland geblieben, die anderen hat es gen Westen gezogen. Volker Koepp beobachtet und befragt sie in ihrem neuen Zuhause, das Heimat noch nicht sein kann, vielleicht nie sein wird. Bei Emma, der Mutter der vier Frauen, die jetzt in Ostwestfalen lebt, ist das am markantesten: Sie kam hierher, weil es die Familie so wollte, nicht aus freien Stücken. Ihre Schwester, auch um die 70 Jahre alt, bringt das Gefühl von Verlorenheit auf den Punkt: "Wir wissen nicht, wo Heimat ist. Dort wurden wir als Deutsche beschimpft, hier sind wir Russen." Auf die Straße gehen und sich einfach unterhalten könne man kaum: Niemand spricht mit einem, viele gehen vorbei. Diese Szene, die bewegendste in "Fremde Ufer", belegt Koepps Sensibilität, die sich, wenngleich auch nicht in allen Momenten des Films, auf seinen jungen Kameramann Uwe Mann übertragen hat. Koepp drängt sich den alten Frauen nie auf; stattdessen zeigt er ruhig, in gebührendem Abstand ihre Verrichtungen in der Wohnung. Wenn Emma und Selma die Zimmer wechseln, folgt er ihnen nicht mit der Kamera: Vielleicht wischen sie, für einen Augenblick unbeobachtet, eine Träne aus dem Gesicht, die der Regisseur kaum zu zeigen nötig hat, um die Traurigkeit der Situation zu unterstreichen.

Die Jüngeren scheinen es mit der neuen Heimat leichter zu haben. So sagen sie jedenfalls. Mitunter freilich sprechen Blicke Bände; oder es fallen ein paar verräterische Worte. Auf Koepps Frage an Olgas Schwester Nina und ihren Mann, daß ihre Mahlzeiten ja immer noch so aussähen wie in Kasachstan, antworten die beiden: "Ja, wie zu Hause." Lilli, eine andere Schwester, drückt die Bank einer deutschen Sprachschule, auf der ihr unter anderem Worte wie McDonalds, Cola, Pommes frites und o.k. beigebracht werden. Ihren Sohn Wadim hat sie in Thomas umbenannt, weil Wadim im deutschen Namensregister nicht vorhanden ist - ein seltsamer, entwürdigender Vorgang. Davon erzählen sie und ihr Mann dem Filmteam in einem Café; Koepp schneidet das Bild älterer deutscher Damen ein, die sich am Nachbartisch zum Kaffeekränzchen versammelt haben und ebenso neugierig wie abschätzig zu den "Russen" hinüberlugen. Deutschland bedeutet in "Fremde Ufer" kleine, enge Neubauwohnungen. Für Ostpreußen dagegen stehen weite Horizonte, eiskalte Seen, ein Hof voller Tiere. Aber auch verfallene Häuser, schlammige Straßen, verlotterte Ställe. Männer lungern herum, die Flasche Wodka immer dabei, und Frauen jammern über Gott und die Welt. Die Russen seien so, meint Olgas Mann; lethargisch und sentimental; es stecke in den Genen und werde sich niemals ändern. Zwischen beiden entspinnt sich die Debatte, wer am Unglück des Volkes schuld sei: die Leute selbst oder vielmehr der Staat, der die Arbeiter mit 30.000 Rubel Monatslohn abspeise, wo schon der Laib Brot allein 2000 Rubel kostet. "Mein Glauben ist mein Vaterland" heißt es wenig später in einer Wahlwerbesendung des russischen Fernsehens, aber die Realität hat den Satz schon als Phrase entlarvt, noch bevor er richtig ausgesprochen wurde. Koepps Film erweist sich in solchen Szenen als durchaus politisch, obgleich er dem Anschein nach ziemlich private Geschichten erzählt.

Eine der letzten Sequenzen zeigt Olgas Kinder, im Halbdämmer an einem Tisch sitzend. Aus zerschnittenen deutschen Bierbüchsen basteln sie Stühlchen und andere schnörkelige Kleinigkeiten für die Puppenstube. Koepp fragt sie nach ihren Vorstellungen von der Zukunft. Das Mädchen will auf jeden Fall bleiben, sich dem Allgemeinwohl widmen, vielleicht als Biologin. Der Junge möchte unter allen Umständen fort, nach Deutschland, weil hier vieles so schmutzig sei. Ganz am Schluß aber ist zunächst Mutter Olga auf dem Sprung nach Deutschland, eingeladen von den Schwestern. Fährt sie wirklich nur zu Besuch? Koepp verhehlt nicht, wie traurig es ihn stimmen würde, wäre auch Olga zur Übersiedlung in jenes Land bereit, in dem sie - wie ihre Mutter - eine Fremde wäre. Wohin die Frau seiner Meinung nach wirklich gehört, unterstreicht er durch Beobachtungen vom unendlich zärtlichen Umgang mit ihren Tieren; und er integriert sie durch behutsame Schwenks immer wieder in die Landschaft, in "ihre" Natur. Doch alles ist offen, und das Leben bleibt unberechenbar. Vielleicht läßt Volker Koepp, der gern die Geschichten von Helden seiner früheren Filme weitererzählt, auch hier eine Fortsetzung folgen.
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