Die Engel von Sinjar

Dokumentarfilm | Polen/Deutschland 2022 | 110 Minuten

Regie: Hanna Polak

Im Jahr 2014 wurde die mehrheitlich von Jesiden bewohnte irakische Stadt Sinjar von der IS-Terrormiliz eingenommen, die einen Genozid an den Jesiden verübten: Männer werden ermordet, Frauen und Kinder verschleppt und versklavt. Nach der Befreiung der Stadt begleitet der Dokumentarfilm die Jesidin Hanifa bei ihrer gefährlichen Suche nach ihren entführten fünf Schwestern. DDer Dokumentarfilm nimmt hautnah, mitunter etwas distanzlos auch an sehr emotionalen Szenen vor der Kamera teil, ist in seinem Bemühen, den unermüdlichen Kampf der jungen Frau zu würdigen, aber jederzeit aufrichtig. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ANGELS OF SINJAR
Produktionsland
Polen/Deutschland
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
HBO Europe/Hanna Polak Films/Saxonia Ent./ZDF/arte/Česká televize
Regie
Hanna Polak
Buch
Hanna Polak
Kamera
Hanna Polak · Mariusz Margas · Mykhailo Puziurin
Musik
Lukasz Pieprzyk
Schnitt
Marcin Kot Bastkowski · Hanna Polak
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Doku über die Suche der Jesidin Hanifa nach ihren fünf Schwestern, die 2014 während des Genozids durch den IS verschleppt und versklavt wurden.

Diskussion

Auf dem heiligen Berg der Jesiden, dem Sinjar, stehen heute Dutzende ausgebrannte Autos. Sie gehörten den Bewohnern der gleichnamigen Stadt im Nordirak. Heute sind die meisten von ihnen tot, ermordet von der Terrororganisation IS, die im Jahre 2014 einen von der Welt kaum beachteten Genozid an den Jesiden verübte. In den Siedlungsgebieten der Jesiden dominieren heute Trümmerfelder die Landschaft. Von den Städten und Dörfern sind nur noch geisterhafte Ruinen übriggeblieben. Ihre männlichen Einwohner wurden vom IS hingerichtet, die Frauen verschleppt, vergewaltigt und versklavt – ältere Frauen wurden ebenfalls ermordet.

Manchmal beteiligten sich auch Araber aus der Region an dem Morden. Der Kämpfer Saeed Murad erzählt von den Gefechten, die sich die wenigen jesidischen Einheiten mit dem IS und arabischen Bekannten lieferten, die einst Nachbarn und Arbeitskollegen waren. Aus Murads Dorf mit 1700 Einwohnern überlebte nur eine Handvoll Menschen. Seine Schwester Nadia Murad wurde ebenfalls verschleppt und versklavt. Ihr gelang die Flucht nach Deutschland, wo sie Asyl erhielt und als Fürsprecherin der jesidischen Sache international Berühmtheit erlangte. 2018 erhielt sie den Friedensnobelpreis und wird heute in ihrer Heimat als Volksheldin verehrt.

Ein schweres Gelübde

In dem Dokumentarfilm „Die Engel von Sinjar“ von Hanna Polak geht es vor allem um jesidische Frauen, insbesondere um die Schwestern einer jungen Frau namens Hanifa. Wie durch ein Wunder entkam sie dem IS-Angriff auf ihr Dorf, doch ihre fünf jüngeren Schwestern wurden entführt und versklavt. Daraufhin erlitt ihr Vater einen schweren Schlaganfall. Auf seinem Sterbebett ließ er seine älteste Tochter versprechen, dass sie ihre Schwestern aufspüren und befreien werde.

Hanifa hat ihr Leben seitdem der Suche nach ihren Schwestern verschrieben. Das Gelübde wiegt schwer. Manchmal hält sie ihre Situation kaum noch aus und kämpft gegen Suizidgedanken. Doch die Erfolge, die bereits erzielt wurden, lassen sie durchhalten. Ihre Mutter und zwei Schwestern leben zu Beginn der Dreharbeiten in Deutschland. Sie konnten befreit werden. Wenn andere Bekannte dem IS entkommen – durch Flucht oder teure Freikäufe von vielen Tausend Dollar, sucht Hanifa sie auf und versucht, Informationen über die drei fehlenden Schwestern zu erhalten.

Allerdings verschwimmen in „Die Engel von Sinjar“ die Zeitebenen. Man weiß nicht genau, wann die Geschehnisse vonstattengehen. Außerdem erweist sich Hanifas Unterfangen als äußerst riskant. Der Mann, der ihr bei der Befreiung der Schwestern helfen will, begibt sich in Lebensgefahr, da er Kämpfer des IS überlisten muss. Auch Hanifa und die Regisseurin geraten in lebensbedrohliche Situationen. Nie weiß man, ob Kampfhandlungen mit IS-Kämpfern ausbrechen; nächtliche Fahrten mit dem Auto sind wegen feindlicher Checkpoints und Minen extrem riskant. Einmal entkam Hanna Polak nur knapp dem Tod.

Wahr ist, was gefilmt wird

Hanifas wichtigstes Kommunikationsmittel ist das Handy. Damit ruft sie ihre Familie in Europa an, kann aber auch erreicht werden, wenn es Neuigkeiten über die noch entführten Schwestern gibt. Manchmal überschlagen sich die Ereignisse. Eine Befreiung steht unmittelbar bevor; dann muss auch die Regisseurin verständigt werden, damit sie die Entwicklungen mit der Kamera festhält. Nicht immer geht Polak dabei subtil vor. Sehr intime Momente, darunter Hanifas Wiedersehensfreude mit ihren Schwestern oder der stets weinenden Mutter hält sie ohne jegliche Distanz fest. Tiefste Gefühle müssen vor der Kamera ausgelebt werden. Auch wenn die Schwestern am Grab ihres toten Vaters beten und mit ihm sprechen, bekommt das Publikum jedes Wort mit.

Und als ob diese Situationen emotional nicht schon aufgeladen genug wären, unterlegt die Regisseurin diese Szenen häufig mit gefühliger Musik. Obwohl der Film eine zeitgeschichtlich wichtige Arbeit leistet und man ihm seine humanitäre Mission nicht absprechen kann, erweist er sich als Kind einer von Sozialen Medien geprägten Zeit: Ereignisse gelten nur dann etwas, wenn man sie durch die Kamera bestätigen kann.

Dass sich die meiste Zeit in Ellipsen abspielt, die für Hanifa quälendes Warten darstellt, wird allerdings auch klar. Zwar wurde Sinjar im Laufe der kriegerischen Auseinandersetzungen befreit. Doch etliche Frauen befinden sich immer noch in Gefangenschaft. Zwischendurch reist Hanifa nach Europa, besucht ihre Familie, tritt auf Kongressen auf und versucht, auf das Leid der Jesiden aufmerksam zu machen. Denn sie wurden Opfer eines Völkermords, dessen Grausamkeit durch den IS keine Grenzen kannte. Die Aussagen jesidischer Frauen, die über Vergewaltigung, Folter, Versklavung und andere unvorstellbare Verbrechen berichten, welche die IS-Kämpfer an ihnen begangen haben, sind nur schwer zu ertragen. Ihr Wert bemisst sich für die islamistischen Terroristen lediglich in Dollar – sie sollen gewinnbringend verkauft werden und sind dementsprechend streng bewacht. Dass Hanifa am Ende zwei weitere Schwestern in die Arme schließen kann, grenzt an ein Wunder. Die Aufopferung für ihre Familie steht für sie an erster Stelle. Ihr eigenes (Privat-)Leben ordnet sie dem unter.

So macht „Die Engel von Sinjar“, der schon vor der Pandemie fertiggestellt wurde, durch das Schicksal einer einzelnen Familie auf einer ganzen ethnisch-religiösem Gruppe aufmerksam. Etliche Jesiden leben heute in Flüchtlingslagern oder im Exil. Ihre Sicherheit ist in keinem ihrer Heimatländer gewährleistet – weder im Irak, noch in Syrien oder der Türkei.

Zu Beginn des Films erfährt man auch einiges über Mythologie und Religion der Jesiden. Von den titelgebenden Engeln der Jesiden ist dann die Rede; einen Satan kennt die jesidische Religion jedoch nicht. Dabei wird das Land der Jesiden aus Panoramaperspektive mit seinen kargen Bergen eingeblendet. Im Anschluss erzählt der Film vom aktuellen Leid der Jesiden, deren Geschichte reich an Pogromen und Vertreibungen ist. Als Minderheit waren die Jesiden immer von Völkern umgeben, die sie durch Gewalt und Missionierung vereinnahmen wollten. Das größte Verdienst von „Die Engel von Sinjar“ besteht darin, auf den Kampf der Jesiden für Unabhängigkeit und Frieden aufmerksam zu machen.

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