Kaum fällt die Tür des Bauernhofs ins Schloss, beginnt für das Waisenkind Andreas Egger das Martyrium. Schon die Kutschenfahrt durch die imposanten Berge des Südtirols zieht sich lange hin. Was den Jungen aber Anfang des 20. Jahrhunderts nach seiner Ankunft beim Bauern Kranzstocker erwartet, ist ein nie endendes Leiden, das ihm, und darüber wundert man sich von Unglück zu Unglück mehr, das Staunen über die Schönheit des Daseins nicht verderben kann. Auch wenn sein Leben rau und entbehrungsreich ist und sich dem Jungen die Traumata immer tiefer ins Gesicht schreiben, bleiben seine Augen neugierig und leuchten angesichts der kleinen Glücksmomente, die er der Anreihung von Katastrophen abringen kann.
Eine albtraumhafte Kindheit
Von seinem neuen „Beschützer“ wird er nicht wie dessen eigene Kinder behandelt, sondern als kostenlose Arbeitskraft ausgebeutet. Und als würde das nicht schon reichen, verprügelt ihn der ständig Gott und die Bibel zitierende Kranzstocker grundlos, bis der Bauer ihm einmal ein Bein bricht, das ihn fortan hinken lässt. Der einzige Lichtblick in dieser albtraumhaften Kindheit ist die alte Ahnl, die manche seelische Verletzung aufzufangen weiß. Als Egger endlich erwachsen und willensstark genug ist, löst er sich von den Ketten seines Peinigers, nimmt Gelegenheitsarbeiten an und mietet mit dem Ersparten eine Hütte hoch oben auf einem Berg.
Trotz seiner Behinderung nutzt er die Chance, als sich ihm eine feste, wenn auch lebensgefährliche Arbeit bei der Seilbahnfirma Bittermann & Söhne bietet, die nicht nur Elektrizität in die ärmliche Gegend bringt, sondern auch die ersten Touristen. Auf dieser Grundlage wirbt er um Marie, die in der Dorfgastwirtschaft arbeitet. Die beiden erkennen ineinander eine Seelenverwandtschaft, streifen verträumt durch Wiesen und Täler und tauschen instinktiv ihre intimsten Gedanken aus. Nach der Heirat ist Marie schwanger und es scheint, als könnte Egger einem glücklicheren Lebensabschnitt entgegengehen.
Doch dann zerstört eine Lawine alle Pläne. Nur Egger überlebt knapp und muss erst die vielen Brüche auskurieren, bis er wieder mit der Wartung der Seilbahn beauftragt wird. Der von Gewissensbissen geplagte Direktor gibt ihm leichtere Arbeit, weil es wohl Sprengungen der Firma waren, welche die Lawine verursacht hatten. Seine früheren Kollegen verlieren während der Arbeit weiterhin Körperteile oder bringen sich gleich selbst um, wie einer von ihnen, der Egger kurz vor dem Selbstmord lebensmüde anvertraut, dass er an kein Himmelreich mehr glaube, wenn dieses von dem Jammertal auf der Erde „so verteufelt weit weg“ ist.
Liebesbriefe an eine Tote
Erst schlägt die Natur zurück, dann hört man Goebbels' sich überschlagende Stimme in der Dorfschenke nach dem totalen Krieg schreien. Die jungen Soldaten kehren in Särgen zurück, und Egger wird für kampftauglich erklärt, „um den Kaukasus zu befreien“. Seine Aufgabe besteht darin, ganz allein in der eisigen Kälte Sprenglöcher anzulegen, um im Fall des Abzugs „alles in die Luft zu jagen“. Auch diese Zumutung übersteht er duldsam. Er kehrt aus russischer Gefangenschaft zurück und setzt in seinem Dorf dort an, wo er aufgehört hatte: bei harter Arbeit und Briefen an Marie, die er in einen Schlitz in ihrem Sarg wirft.
Die Vorlage für „Ein ganzes Leben“ von Hans Steinbichler ist der gleichnamige Roman von Robert Seethaler, der im Jahr 2014 erschienen ist. Die Hauptfigur erinnert entfernt an Voltaires optimistisch gestimmten Märchenhelden Candide, der auf seiner Reise quer durch Europa eine Kette zufälliger Unglücke, Katastrophen und unwahrscheinlicher Rettungen erlebt, dabei nie den Lebensmut verliert und erst nach der Begegnung mit einem Pessimisten an der Menschheit zu zweifeln beginnt. Egger erreicht dieses Stadium nie, auch wenn er kurz vor seinem Tod sein Leben in einer rasant geschnitten Bildersequenz weinend an sich vorbeiziehen lässt und in einem letzten Brief an Marie schreibt, dass er zwar nie an Gott geglaubt habe, aber wenn er nicht so müde wäre, vor reinem Glück lachen müsste.
Nach Lachen ist einem am Ende dieses sonderbaren Lebenswegs gewiss nicht. Steinbichler zeigt verhärtete Menschen, abweisend, wortkarg und kalt, in einer atemberaubenden Landschaft, die sich selbst genug ist und jene hart bestraft, die Hand an sie legen. Erst der Tourismus verspricht nach dem Krieg mehr Leichtigkeit, zumindest für diejenigen, die aus ihm Gewinn zu schlagen wissen. Egger gehört nicht dazu. Er kann dem Wandel nichts abgewinnen. Einer sich anbahnenden Beziehung mit einer Lehrerin geht er aus dem Weg und hängt lieber der Vergangenheit mit Marie nach; ein Eigenbrötler mit großem Herz und Sinn für die Heilkraft der Zurückgezogenheit.
Auf der Suche nach Klarheit
„Der Mensch ist oft allein in dieser Welt“, sagt die Lehrerin einmal zu ihm. Für Egger, der früher die Gesellschaft durchaus anderer genießen konnte, ist Alleinsein keine Strafe, sondern eine Gelegenheit, metaphysische Klarheit zu erlangen. Unter den drei hervorragenden Darstellern, die ihn im Lauf der Zeit verkörpern, formt Stefan Gorski die Figur am stärksten mit seiner wuchtigen Körperpräsenz und der mitreißend emotionalen Spielweise. Bei der durchgehend hohen schauspielerischen Qualität des Films bedürfte es gar nicht der melancholisch-sentimentalen Musik, die mehr irritiert als dass sie die Handlung voranbringt, zumal die ruhige Kamera von Armin Franzen die knappen Dialoge mit Bildern kompensiert, deren Spektrum von schmerzhaft realistisch bis zu naturverbunden romantisch reicht.
Seine Aufnahmen treffen ins Mark der existenziellen Achterbahn, die als Ode an die Berge und den eigenwilligen Menschenschlag inszeniert ist, den diese Gegend hervorbringt. Dass Steinbichler dabei keine Schonfilter einsetzt, weder bei den mitunter bis zur Schmerzgrenze kantigen Figuren noch bei den Folgen der Domestizierung dieser monumentalen Welt, macht „Ein ganzes Leben“ zu einer beklemmenden Passionsgeschichte und zugleich einem Heimatfilm der abgründigen Art. Dazu gehört auch, dass er seine schlafwandlerische Hauptfigur zufrieden in das „kalte Nichts“ entlässt, das ihr einst ein weiser Greis als den Tod vorgestellt hatte. Der Greis selbst kehrt am Filmende als von Touristen bestaunte Eis-Mumie nach vierzig Jahren ins Dorf zurück.