Lady Chatterleys Liebhaber (2022)
Drama | Großbritannien/USA 2022 | 126 Minuten
Regie: Laure de Clermont-Tonnerre
Filmdaten
- Originaltitel
- LADY CHATTERLEY'S LOVER
- Produktionsland
- Großbritannien/USA
- Produktionsjahr
- 2022
- Produktionsfirma
- 3000 Pict./Blueprint Pict./Netflix
- Regie
- Laure de Clermont-Tonnerre
- Buch
- David Magee
- Kamera
- Benoît Delhomme
- Schnitt
- Nina Annan · Géraldine Mangenot
- Darsteller
- Emma Corrin (Lady Constance Chatterley) · Jack O'Connell (Oliver Mellors) · Matthew Duckett (Clifford Chatterley) · Faye Marsay (Hilda) · Joely Richardson (Mrs. Bolton)
- Länge
- 126 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 18.
- Genre
- Drama | Liebesfilm | Literaturverfilmung
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Eine neue Romanadaption nach D.H. Lawrences Klassiker um eine unglücklich verheiratete Aristokratin, die eine heiße Affäre mit einem Wildhüter eingeht.
Das Leben ist eine Lotterie. Für manche gar eine „Spermienlotterie“! So scheint es sich auch im Falle der jungen bürgerlichen Constance Reid (Emma Corrin) aus London und ihres frisch angetrauten Gatten Sir Clifford Chatterley (Matthew Duckett), eines Barons mit weitem Anwesen außerhalb der Metropole, zu verhalten. Hoch und Nieder, Stadt und Land, bewahrende oder progressive Gesinnung – wie ist derlei verteilt in einer sich verändernden Gesellschaft, und welchen Einfluss üben solche Faktoren auf individuelles Verhalten? Fragen, die die Netflix-Neuverfilmung eines klassischen Werks der erotischen Literatur, „Lady Chatterley’s Lover“ von D.H. Lawrence, auch verhandelt. Wir schreiben das Jahr 1914, der Erste Weltkrieg ist ausgebrochen, und ein fundamentaler Umbruch steht allen bevor – das erkennen auch die Chatterleys bald: „Our way of life will end“. Man müsse nur darauf sehen, dass am Ende nicht schier gar nichts mehr übrig bleibe vom guten alten England, so die Barone…
Ausbruch aus lähmenden Verhältnissen
Am Morgen nach einer etwas linkisch verbrachten Hochzeitsnacht geht es für Sir Clifford ins Feld, an die Front, wo er schwer verwundet wird. Unversehens findet sich Constance zusammen mit ihrem von der Hüfte abwärts gelähmten Mann in einem großen, kühlen Landhaus wieder, wo sich von nun an alles seinen Ansprüchen zu fügen hat und sie vor allem dekorativ wirkt (obwohl sie manches versucht, ihre Entfremdung nicht wachsen zu lassen).
Regisseurin Laure de Clermont-Tonnerre inszeniert die Figur der Constance wirklich äußerst vorteilhaft: bildschön, ätherisch, wie ein Luftgeist auf einem Gemälde der englischen Präraffaeliten, gewandet in duftige Stoffe à la Laura Ashley. Es ist erstaunlicherweise der Baron selbst, der früh in Vorschlag bringt, seine Frau möge sich für ihre natürlichen Bedürfnisse mit einem anderen Mann einlassen. Er denkt ans Pragmatische, flüchtigen Sex und daran, diskret doch noch an einen Erben für seinen Besitz und Namen zu kommen – nicht an das Zwischenmenschlich-Filigrane. Nur kurz zögert Constance, die gar nicht gefragt wird, ahnend wohl, dass dies à la longue kein tragfähiges Lebensarrangement wird abgeben können. Dann fällt ihr Blick auf den äußerlich ansehnlichen, innerlich jedoch auch nicht unversehrt gebliebenen Wildhüter Oliver Mellors (Jack O’Connell).
Immer öfter lässt Constance nun ihren vielfach anders beschäftigten Mann in der Obhut seiner Pflegerin aus früheren Tagen, Mrs. Bolton (Joely Richardson), zurück und bricht mit einem Buch unterm Arm zu ausgedehnten Spaziergängen auf – „I’m going for a walk“ –, die sie geradewegs in Mellors’ Hütte führen.
Libertinage und Avantgarde
Sir Cliffords Lähmung und Impotenz, das macht der Film an dieser Stelle deutlich, ist keineswegs ausschließlich körperlich-sexuell konnotiert, sondern verweist motivisch-strukturell auch aufs Künstlerische (er scheitert ebenso als biografischer Schriftsteller), ja sogar auf die soziale Sphäre. Die Tatsache, dass der schlichte irische Landmann Mellors in seiner Freizeit James Joyce liest (und Constance den neuesten Roman von Virginia Woolf bei ihm vergisst), fügt den beobachteten kalkulierten Gegensätzlichkeiten des Stoffes noch die der künstlerischen Avantgarde und Libertinage auf konservativem Grund und Boden hinzu. In allererster Linie aber haben die beiden vom Schicksal Vereinten Sex miteinander, guten Sex, Sex in allen Stellungen und auf unterschiedlich harter Unterlage (Bett; Wiese; Wurzelwerk). Constance, die nicht als Jungfrau in die Ehe ging (wenn man mehrfache Anspielungen auf einen „German boy“ so deuten darf), erlebt hier dennoch zum ersten Mal das Leben in einer Fülle und Ganzheitlichkeit, was glaubhaft und ergreifend inszeniert wird. Hoch symbolisch und anrührend zugleich etwa eine Szene, in der sie kleine, frisch geschlüpfte Fasane betrachtet und berührt – man möchte meinen, Emma Corrins Tränen der Rührung seien echt!
Mellors, zunächst der Zurückhaltende, Abwartende, erkennt den zwischen ihnen waltenden Klassenunterschied an und nennt sie weiterhin – zunehmend sarkastischer allerdings – „Milady“, obwohl der Film auch die andere Seite jener spätfeudalistischen Verhältnisse durchaus in den Blick nimmt: protestierende Minenarbeiter, die sich zu gewerkschaftlichem Streik zusammengeschlossen haben, um den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen der Barone entgegenzutreten. Der Wildhüter mit den zarten Händen zieht stets artig den Hut (Kopfbedeckungen und ihr Fehlen spielen eine Rolle) und begleitet Constance immer genau bis an die Grenze ihres herrschaftlichen Bezirks. Erst nach Aufforderung geht er zu „rauerer Behandlung“ („coarser treatment“) über, und beide springen nun völlig nackt und auch sonst für Augenblicke total befreit durch die arkadische Landschaft. Doch Welt und Zeit wohnen mit in Arkadien, und so kommt es unvermeidlich irgendwann zur Konfrontation mit Sir Clifford.
Ästhetisch als auch erwachsen-ernsthaft
Es ist erstaunlich, dass und wie dieser seinem Sujet, seinem Cast sowie seiner erzählerischen Anlage nach eigentlich seltsam aus der Zeit gefallene Film dennoch zu überzeugen weiß: Setting und Ausstattung sind tadellos, schön, ohne allzu sehr weich zu zeichnen; die Anteile erotischer Cinematografie im Herzen der Handlung geraten sowohl ästhetisch als auch erwachsen-ernsthaft (Netflix selbst gibt eine Altersempfehlung ab 18), und vor allem das Zusammenspiel von Corrin und O’Connell ist glaubwürdig intensiv und präzise. Während er den kernig-wortkargen Kerl in der Tradition Steve McQueens oder Tom Hardys gibt, lebt Emma Corrin (die sich 2021 als non-binär geoutet hat) hier ersichtlich ihre weibliche Seite mit Gusto aus, ohne tomboyische Einschläge – ihre Wandlungsfähigkeit in der Rollengestaltung ist bewundernswert! Abgesehen von der zu kursorisch behandelten sozial(politisch)en Komponente des Stoffs eine positive Überraschung rundum; eine Augenweide sowieso.