The Underground Railroad
Drama | USA 2021 | 610 (zehn Episoden) Minuten
Regie: Barry Jenkins
Filmdaten
- Originaltitel
- THE UNDERGROUND RAILROAD
- Produktionsland
- USA
- Produktionsjahr
- 2021
- Produktionsfirma
- Plan B Entertainment/Pastel Productions
- Regie
- Barry Jenkins
- Buch
- Jihan Crowther · Allison Davis · Bledsoe Sophia · Barry Jenkins
- Kamera
- James Laxton
- Musik
- Nicholas Britell
- Schnitt
- Joi McMillon · Alex O'Flinn
- Darsteller
- Thuso Mbedu (Cora) · Chase W. Dillon (Homer) · Joel Edgerton (Ridgeway) · Aaron Pierre (Caesar) · Amber Gray (Gloria Valentine)
- Länge
- 610 (zehn Episoden) Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f (Ep. 4,6-8) & ab 16; f (Ep.1-3,5,9-10)
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama | Literaturverfilmung | Serie
Serienverfilmung des gleichnamigen Romans von Colson Whitehead: Im 19. Jahrhundert wagt eine junge Sklavin die Flucht aus Georgia gen Norden mit Hilfe eines Netzwerks an Unterstützern, das „Underground Railroad“ genannt wird.
Zwei junge Menschen, zwischen ihnen ein Baum. Caesar hat sich in Cora verliebt, vielleicht. Aber darum geht es in dieser ersten Szene der Serie „Underground Railroad“ gar nicht. Caesar will Cora zur gemeinsamen Flucht überreden. Beide wissen, wie unwahrscheinlich es ist, die Flucht von der Baumwollplantage zu überleben. Sie werden sie jagen. Ist es doch ratsam, das unwürdige Dasein in der Sklaverei weiter zu ertragen? Wie Cora um den Stamm herumgeht, zu Caesar herüber, aber noch mit kleinen Schritten, als wäre sie an den Baum geleint: Schon hier zeichnet sich ab, dass sich ein Meister der Personenregie der Vorlage angenommen hat.
„Als Caesar das erste Mal von einer Flucht in den Norden redete, sagte Cora nein.“ Mit diesem schmallippigen Satz beginnt Colson Whiteheads grandioser Roman „Underground Railroad“. Barry Jenkins (Regie und Drehbuch-Mitarbeit) hat die aufwühlende Odyssee einer schwarzen Frau, die um ihre Freiheit kämpft, als Miniserie verfilmt. Meistens scheitern solche Projekte an der Kraft ihrer Vorlagen. Nicht so bei Barry Jenkins, der sich die Filmrechte bereits vor der Erstauflage des Buchs 2016 sichern konnte und – bei allen Abkürzungen und Erweiterungen, die eine Inszenierung des Stoffs erforderte – die Seele des Romans bewahrt hat. Langjährige Jenkins-Mitstreiter wie Nicholas Britell (Musik), James Laxton (Kamera) und Mark Friedberg (Produktionsdesign) müssen zumindest kurz erwähnt werden, denn sie waren maßgeblich an der geglückten Übersetzung des Romans ins audiovisuelle Medium beteiligt.
Bleibende Bilder für die Unantastbarkeit der Menschenwürde
Seit dem „Oscar“-gekrönten „Moonlight“ und der James-Baldwin-Verfilmung „Beale Street“ ist Barry Jenkins bekannt für seine einfühlsamen filmischen Porträts von Afroamerikanern im alltäglichen Ausnahmezustand. In prekären Verhältnissen in Miami aufgewachsen, ist Jenkins mit der Lage seiner von Rassismus und sozialen Problemen bedrängten Figuren überaus vertraut. Stilistisch hat er sich weit von der Blaxploitation-Ära der 1970er-Jahre entfernt: Trotz der Härten, denen seine Charaktere ausgesetzt sind, hält Jenkins Fluchträume offen, zeigt Tagtraumblasen und besteht auf Inseln der (inneren) Unversehrtheit. Es gibt kaum einen Regisseur, der für die Unantastbarkeit der Menschenwürde so nachhaltige Bilder gefunden hat wie Jenkins.
Die extreme Brutalität in „Underground Railroad“, die für ein wahrhaftiges Bild der Sklaverei wohl unumgänglich ist, muss für den 41-jährigen Regisseur eine große Herausforderung bedeutet haben. Schon im ersten von insgesamt zehn Kapiteln der Serie zeigt die Menschenverachtung der Plantagenbesitzer ihre grauenvolle Fratze. In einer Explizitheit, die schwer zu ertragen ist, zeigt Jenkins, wie einer der Sklaven – Big Anthony (Elijah Everett) – nach missglücktem Fluchtversuch erst mit Peitschenhieben halb zerfetzt und dann bei lebendigem Leib verbrannt wird. Die versklavte Schicksalsgemeinschaft muss dabei zusehen, während eine weiße Tischgesellschaft gelangweilt an den Teetassen nippt. In einer typischen Jenkins-Volte schließt die Szene mit dem subjektiven – faktisch unmöglichen – Blick des Getöteten auf seine Peiniger ab. Das Prinzip Hoffnung überlebt. Es springt nun sozusagen auf Cora (Thuso Mbedu) über, das zwar gebeugte, aber nie gebrochene Rückgrat der epischen Handlung. Cora willigt in Caesars Fluchtpläne ein.
Ein System aus geheimen Fluchtrouten und Schutzhäusern – und hilfreichen Menschen
Was ist die Underground Railroad? Um 1780 wurde ein Fluchthilfenetzwerk für schwarze Sklaven gegründet, das 70 Jahre später, im Eisenbahnzeitalter, seinen prägnanten Namen bekam. Gegner der Sklaverei, darunter viele Weiße, hatten dieses System aus geheimen Fluchtrouten und Schutzhäusern entwickelt, das vor dem Sezessionskrieg ungefähr 100 000 Menschen die Flucht aus dem Süden der USA in die sicheren Nordstaaten oder in die Provinz Kanada ermöglichte.
Colson Whiteheads Kunstgriff besteht darin, den Namen wörtlich zu nehmen. Ursprünglich nur eine Metapher, materialisiert sich die Railroad im Roman – und dann auch in der Serie – als unterirdisches Eisenbahnnetz. Äußerlich unscheinbare Farmhäuser bergen Schächte, die zu Stationen führen. Ein Tunnelsystem erstreckt sich von Süden nach Norden. Was nach Fantasy klingt, ist in seiner fiktionalen Realisierung eher prekär, störanfällig und andauernd bedroht. Streckenabschnitte werden stillgelegt, Stationshäuser von den Südstaaten-Schergen in Schutt und Asche gelegt. Die zentrale Denkfigur des Romans – und hier liegt ihr dramaturgischer Sinn – ist auf die junge Protagonistin Cora und ihre Reise zugeschnitten. Auf ihrem nördlichen Kurs durch mehrere Bundesstaaten erlebt Cora verschiedene Stadien zwischen Versklavung und Freiheit, sie durchleidet Dystopien und erlebt, wie Utopien scheitern. Cora verliert viel. Und sie findet einen starken Menschen – sich selbst.
Die südafrikanische Schauspielerin Thuso Mbedu meistert die gewaltige Rolle der Cora glänzend, verfügt über alle Facetten zwischen Verzweiflung, Erstarrung, Trotz, Widerständigkeit und ungezügelter Lebensfreude. Bis in kleinste Nebenrollen ist die Serie hervorragend besetzt. In der Rolle von Coras Mutter Mabel ist die Britin Sheila Atim zu sehen. Mabel, die vor Jahren spurlos von der Plantage verschwand, ist für Cora in Erinnerungs- und Traumfetzen präsent. Warum hat Mabel ihre zehnjährige Tochter im Stich gelassen? Lebt sie in New York, als freie Frau, als Bettlerin? Coras Hass auf ihre Mutter, ihr Wunsch, sie zur Rede zu stellen, scheinen ebenso stark wie ihr Überlebenswille. Mabels vermeintliche Flucht – in der Finalfolge erfahren wir, was sich wirklich ereignete – motiviert auch den Sklavenjäger Ridgeway (Joel Edgerton), dem Mabel entwischte und der mit Cora nun eine Scharte auswetzen will. Ridgeway setzt alles daran, Cora lebend zu fangen und nach Georgia zurückzubringen, mögen seine Auftraggeber mit ihrem „Eigentum“ dann verfahren, wie es ihnen beliebt.
Ein perverser American Dream: „erobern, aufbauen, zivilisieren“
Joel Edgerton gibt den finsteren Menschenjäger als komplexe Verkörperung eines korrumpierten Amerikanischen Traums. Ridgeway glaubt an einen ominösen „Great Spirit“, der die Weißen aus Europa in die Neue Welt rief, „damit wir erobern, aufbauen und zivilisieren“, wie ihn Whitehead im Roman sagen lässt. „Und zerstören, was zerstört werden muss. Um die unbedeutenderen Rassen emporzuheben. Und wenn nicht emporzuheben, dann zu unterwerfen. Und wenn nicht zu unterwerfen, dann auszurotten. Unsere Bestimmung kraft göttlicher Vorschrift – der amerikanische Imperativ.“ Im Roman bleibt Coras Gegenspieler ein Schatten, für die Verfilmung wurden die Figur und ihr biografischer Hintergrund stark ausgebaut.
Ein rassistischer Mythos besagt, die Schwarzen seien Nachkommen von Kain und daher verflucht. Während Whitehead die Jugendzeit Ridgeways lediglich knapp skizziert, holt Jenkins zu einer Gegenerzählung aus. „Chapter 4: The Great Spirit“ zeigt Ridgeway als Jugendlichen in Tennessee, der es nicht ertragen kann, dass sein Vater, ein Schmied, mehr Zuneigung für den jungen Schwarzen Mack (Danny Boyd jr.) aufbringt als für seinen leiblichen Sohn. Ridgeway senior (Peter Mullan), im Buch kurz geschildert, trägt in der Serie Züge des alttestamentarischen Gottvaters. Sein Sohn wird zum verschmähten Kain, der „Abel“ – also Mack, der nur in der Serie vorkommt – in einem zynischen Experiment dazu überredet, in einen Brunnen zu springen. Kurz nach dieser Episode schließt sich Ridgeway junior einer Bande von Kopfgeldjägern an. Mack überlebt, trägt eine Gehbehinderung davon, Jahre später wird er (nun gespielt von Irone Singleton) von einem Handlanger Ridgeways getötet – der nachgeholte Brudermord.
Odyssee durch ein Land im Schatten der Sklaverei
Doch derartige Bibel-Zitate sind eher Treibgut in einer mitreißenden Counter-Culture-Erzählung über ein mit dem Fluch der Sklaverei beladenes Land. Coras Reise lässt sich zeitlich in den 1850er-Jahren verorten, aber Whitehead geht (nicht nur mit dem Railroad-Motiv) sehr frei mit historischen Gegebenheiten um. „Underground Railroad“ ist voller Anachronismen, die Zeit ist aus den Fugen, was der Story eine eigenartige Unmittelbarkeit verleiht. Nach der ersten Untergrundfahrt landen Cora und Caesar in einer prosperierenden Stadt in North Carolina, in der Schwarze und Weiße in friedlicher Eintracht zu leben scheinen, bis das Paar begreift, dass sie als Versuchskaninchen in einem eugenischen Experiment missbraucht werden (das zum Teil an der berüchtigten Tuskegee-Syphilis-Studie ab 1932 in Alabama orientiert ist). Als Ridgeway auftaucht, ist es mit dem falschen Idyll ohnehin vorbei.
Von Caesar getrennt, flieht Cora per Untergrundzug nach North Carolina, wo sich grundsätzlich keine schwarzen Menschen aufhalten dürfen – hier lehnt sich Whitehead an die Tradition der „Oregon black exclusion laws“ an, die sowohl gegen die Sklaverei wie gegen die versklavte Bevölkerung gerichtet waren. Wer trotzdem bleibt, wird aufgehängt. Leichen baumeln entlang einer Straße mit dem zynischen Namen „Freedom Trail“. Ein apokalyptisches Bild, das ein Railroad-Helfer namens Martin Cora zeigt, bevor er die Flüchtige heimlich in sein Dorf bringt, wo Cora monatelang versteckt ausharren muss.
Die Geschichte einer bewegenden Frauengestalt
Irgendwann im Lauf ihrer Reise landet das Mädchen auch auf einer nur von Schwarzen bewirtschafteten Farm in Indiana: Eine blühende, von John Valentine (Peter De Jersey) gegründete Gemeinschaft, in der mit Gewinn Wein angebaut wird, in der es eine Schule und eine Bibliothek gibt und Cora neue Freundschaften schließt. Ein Paradies, zu schön, um wahr zu sein. Eine flammende Ansprache, die Valentine im Gemeindehaus hält, erinnert an die Rede „I Have a Dream“ Martin Luther Kings im August 1963 in Washington. Dann fallen Schüsse, und auch das erinnert an den großen Bürgerrechtler. Cora hält trotzdem an ihrem Traum von Freiheit fest. In einer herbstschönen Landschaft vergräbt sie in einer Szene ein paar Samen, die ihre Mutter ihr hinterlassen hat. Dann zieht sie weiter – eine der bewegendsten Frauengestalten der jüngeren US-amerikanischen Literatur, die dank Thuso Mbedu und Barry Jenkins nun auch den Bildschirm erobert.