In dem Thriller „Verdacht“ (1941) deponierte Alfred Hitchcock eine kleine Glühlampe in einem Milchglas. Das unnatürliche Leuchten sollte die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf sich ziehen und die Frage aufwerfen, ob die Milch vielleicht vergiftet sei. In „Little Joe“ von Jessica Hausner ist es eine Blume, die einem sofort suspekt ist. In den streng aufgeräumten Einstellungen des Films, in denen jeder Farbton penibel auf den anderen abgestimmt ist, wirkt das aggressive Rot der puschelartigen Blüten wie ein Warnsignal, das keine der Figuren zunächst richtig deuten will.
Der Film handelt von der Pflanzenzüchterin Alice (Emily Beecham), die für ein biotechnologisches Unternehmen eben jene Blume mit dem Namen Little Joe geschaffen hat. Durch ihren Duft ist sie in der Lage, Menschen glücklich zu machen; sie soll deshalb als eine Art Antidepressivum genutzt werden. Weil Alice auf einen Triumph bei der bevorstehenden Pflanzenmesse hofft, ignoriert sie beharrlich, dass ihre Schöpfung auch gefährliche Nebenwirkungen hat.
Ein Puppenstuben-Komos
Allein die Tatsache, dass es eine Blume wie diese braucht, offenbart bereits, wie viel in Hausners kühler Science-Fiction-Welt im Argen liegt. Der zwischenmenschliche Umgang ist hier steif und unbeholfen. Vor den scheuen Annäherungsversuchen ihres Arbeitskollegen Chris (Ben Whishaw) ergreift Alice jedes Mal panisch die Flucht. Und für ihren Sohn Joe (Kit Connor), der seit der Scheidung von ihrem Ehemann bei ihr lebt, sorgt sie zwar mit einer gewissen Opferbereitschaft, jedoch ohne dass man dieses Verhältnis als wirklich herzlich bezeichnen könnte. Dass in diesem filmischen Puppenstuben-Kosmos ausgerechnet die Beziehung zwischen Alices psychisch labiler Kollegin Bella (Kerry Fox) und deren Hund am natürlichsten ist, zeigt mit einem ironischen Augenzwinkern wie verloren die Menschheit schon ist.
„Little Joe“ erzählt von einer Gesellschaft, die sich mit den Mitteln der Technik gegen die Natur auflehnt. Für die Wärme und Nähe, die sich die Menschen nicht mehr gegenseitig geben können, soll eine Zauberpflanze sorgen, die perverserweise auch noch denselben Namen wie Alices Sohn trägt. Die Natur rächt sich für solche Manipulationen auf ihre Weise: Weil die Blume steril gezüchtet wurde, sorgt sie für ihr Fortbestehen, indem sie Menschen mit ihren Pollen infiziert. Die interessieren sich dann nicht mehr für ihre Artgenossen, sondern nur noch für das Heil der Pflanze.
Die Kamera driftet an Menschen vorbei
Die unheilvolle, rituelle Percussion-Musik des Avantgarde-Komponisten Teiji Ito, die immer wieder wie ein Fremdkörper in diese künstliche und keimfreie Welt hereinbricht, wirkt dabei wie eine Rückkehr des Archaischen. Und wenn die Kamera von Martin Gschlacht immer wieder an den Menschen vorbeifährt, um sich auf etwas Unwichtiges wie eine Tapete zu konzentrieren, vermittelt sie eine Ahnung von einer Welt, in der der Mensch keine Rolle mehr spielt.
Wie das Umfeld von Alice sich zunehmend verwandelt, erinnert an das Szenario aus Don Siegels Horrorklassiker „Die Dämonischen“ (1956), in dem es emotionslose außerirdische Doppelgänger sind, die nach und nach die Menschheit ersetzen. Theoretisch ist das Verstörende an beiden Filmen, dass die Veränderung der Mitmenschen unsichtbar bleibt. Wenn Alice etwa heimlich eine der Pflanzen als Geschenk für ihren Sohn mit nach Hause nimmt, spielt Hausner mehrmals mit der Unsicherheit, ob der Junge sich bereits verwandelt hat. Abgesehen von solchen kurzen Momenten zeigt „Little Joe“ aber kaum Interesse an einer herkömmlichen Spannungsdramaturgie.
Vorsicht! Bitte Mundschutz tragen!
So wie man der Pflanze von Anfang an ansieht, dass sie nichts Gutes bringt, legt auch der Film schon in den ersten Minuten fast alle seine Geheimnisse offen. Im weiteren Verlauf geht es dann auch weniger darum, etwas Neues zu enthüllen als vielmehr um die stete Wiederholung von etwas bereits Bekanntem. Nachdem man schon mehrmals erfahren hat, dass die Pollen infektiös sind, sieht man trotzdem noch einmal die Großaufnahme eines Warnschildes, das zum Tragen eines Mundschutzes auffordert. Oder als die mittlerweile skeptisch gewordene Alice sich Video-Interviews mit Testpersonen ansieht, die derart dilettantisch geschnitten sind, dass sofort offensichtlich ist, was hier unterdrückt werden soll, gibt es später trotzdem nochmal eine Szene, in der sie sich zu Hause das ganze Video ansieht.
Sehr wohlwollend könnte man sagen, dass „Little Joe“ mit seiner redundanten Erzählweise Genreerwartungen unterläuft. Tatsächlich wirkt der Film aber über weite Strecken wie ein etwas unbeholfener und aus der Zeit gefallener Versuch, eine neue Perspektive auf ein klassisches Science-Fiction-Sujet zu finden. Mit Figuren, die von Anfang an so leblos wirken, dass sie keine Fallhöhe haben und dem nur oberflächlich behandelten Motiv einer modernen, von sich selbst entfremdeten Gesellschaft, ist „Little Joe“ in seiner sterilen Selbstbezüglichkeit eher einschläfernd als beunruhigend.