Die drei Felsen auf dem Bild sehen aus wie Eltern, die ihr Kind in die Mitte nehmen. Sie liebe diese Felsen, sagt Sedna zu ihrem Mann Nanouk. Man sieht sie auf einer abgenutzten Schwarz-weiß-Fotografie; offenkundig wurde sie häufig aus dem kleinen Holzschrein hervorgeholt, in dem Sedna sie aufbewahrt. Darauf steht Ága zwischen den beiden, ihre halbwüchsige Tochter.
Im Original heißt der Film von Milko Lazarov genau so: „Ága“. Der Titel bezieht sich auf eine Leerstelle: auf die schmerzliche Abwesenheit der Tochter, mit der die Eltern auf unterschiedliche Weise umgehen. Der deutsche Verleihtitel setzt den Fokus irritierenderweise auf Nanouk, den Vater. Dessen Namen referiert auf den filmhistorisch bedeutenden Dokumentarfilm „Nanuk, der Eskimo“ (1922) von Robert J. Flaherty. „Nanuk, der Eskimo“ wurde wegen seiner Nähe zur Fiktion vielfach diskutiert – er ist in weiten Teilen inszeniert. Zentral ist darin ein Schneesturm; der Protagonist und seine Familie kamen kurz nach den Dreharbeiten tatsächlich bei einem Schneesturm ums Leben.
Auch in dem zweiten Langfilm des bulgarischen Regisseurs Lazarov bedroht ein Schneesturm das Leben des Paars, das in einer Jurte aus Tierhäuten einsam in der nordostsibirischen Eiswüste lebt. Wie praktisch alle Naturphänomene im Film ist auch der Sturm eine Metapher: im weitesten Sinne für die Veränderungen, die über das Leben, die Welt wie den Einzelnen, hinwegfegen – und ganz konkret für das, was auf Sedna und Nanouk zukommt. Immer wieder, wenn auch stets nur nebenbei, spielt der Klimawandel eine Rolle: Der Frühling kommt immer früher, das Eis wird dünner, die Fische beißen nicht mehr an, wenn Nanouk seine Angel in Löcher hält, die er mit seinem Speer zuvor mühsam gebohrt hat.
„Nanouk“ beginnt semidokumentarisch: In der ersten Einstellung ist Sedna in der Tracht der Ewenken zu sehen; sie spielt die Maultrommel. Ihr Tag ist wesentlich von Verrichtungen in der Jurte strukturiert wie Kochen oder dem Zubereiten von Salben. Nanouk stellt draußen die gemeinsam angefertigten Fallen auf oder angelt. Zusammen essen sie dann Trockenfisch. Es gibt keine Nachbarn mehr, keinen Stamm. Sedna und Nanouk sind allein, sie wirken wie die ersten oder vielleicht eher wie die letzten Menschen. Fast unmerklich entwickelt der Film seine Geschichte aus diesem Alltag – und den Legenden, Träumen, Wünschen und Erinnerungen, die sich beide erzählen.
In den atemberaubenden Bildern von Kaloyan Bozhilov – ruhige, lange Einstellungen, die die Menschen in Schnee und Eis klein erscheinen lassen, und im Kontrast dazu die in Sepia getauchte Welt im Inneren der Jurte – ersteht das Bild einer sterbenden Kultur. Gleichzeitig rührt Lazarov an Universelles: Liebe, Alter, Tod, Verlust, Familie. Wie die Geschichte schleicht sich auch die Musik in den Film, verdichtet sich immer symphonischer, bis sie am Ende mit einem vielleicht etwas zu pathetischen Moment in Mahlers 5. Sinfonie kulminiert.
Sedna ist schwer krank; der schwarze Fleck auf ihrer Hüfte wird fast schon David-Lynch-artig als starker Kontrast zum weißen Schnee immer wieder ins Bild gerückt. Die Tiere verenden an einer mysteriösen Krankheit; in das weiße Fell toter Schneefüchse und Schneehasen fressen sich schwarze Löcher; das Öl des Motorschlittens zeichnet Spuren aus schwarzem Blut ins ewige Weiß. So melancholisch wie metaphorisch zeigt Lazarov mehr als er erzählt: „Nanouk“ ist eine Elegie aus Bildern und Tönen.