Eine Gruppe militanter Jugendlicher aus unterschiedlichen sozialen Schichten verübt Anschläge im Pariser Stadtraum und versteckt sich in einem evakuierten Luxuskaufhaus. Ein irritierend hellsichtiges, verwirrend entrücktes Drama, das nicht auf eine filmische Antwort auf den (islamistischen) Terror zielt, vielmehr das Porträt einer Jugend zwischen Aufbegehren und Melancholie mit dem Genrekino verknüpft. Dabei verweigert sich der cineastisch brillante Film dem politischen Diskurs und strebt, indem er Zeichen und Handlung fast unverbunden nebeneinanderstellt, nach Entleerung und Abstraktion.
- Sehenswert ab 16.
Nocturama
Drama | Frankreich/Deutschland/Belgien 2016 | 136 Minuten
Regie: Bertrand Bonello
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Filmdaten
- Originaltitel
- NOCTURAMA
- Produktionsland
- Frankreich/Deutschland/Belgien
- Produktionsjahr
- 2016
- Produktionsfirma
- Rectangle Prod./Wild Bunch/Pandora Film Prod./Arte France Cinéma/arte/WDR/Scope Pic./My New Picture
- Regie
- Bertrand Bonello
- Buch
- Bertrand Bonello
- Kamera
- Léo Hinstin
- Musik
- Bertrand Bonello
- Schnitt
- Fabrice Rouaud
- Darsteller
- Finnegan Oldfield (David) · Vincent Rottiers (Greg) · Hamza Meziani (Yacine) · Manal Issa (Sabrina) · Martin Petit-Guyot (André)
- Länge
- 136 Minuten
- Kinostart
- 18.05.2017
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama | Thriller
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Visionäres Drama über französische Jugendliche zwischen Wut und Melancholie
Diskussion
Junge Menschen, Teenager noch, auf ihren Wegen durch den Pariser Stadtraum, zu Fuß, mit der Métro. Mal gehen sie vereinzelt, mal zu zweit, zu dritt. Auf kurzzeitige Formationen folgt die wortlose Zerstreuung, ein Gruppenkörper aber formiert sich auch so: durch gelegentliche Blickachsen und eine kollektive körperliche Hochspannung. Die präzisen Abläufe von Bewegungen, Gesten und Blicke erinnern an einen Tanz.
Die Wege führen durch die Flure der Métro, über Rolltreppen, durch Ein- und Ausgänge, zwischendurch verschwinden Mobiltelefone in Mülleimern, werden neue aus Jackentaschen hervorgeholt, Nachrichten verschickt, Handyfotos gemacht. Blicke richten sich auf Uhren und U-Bahndisplays, irgendwann geraten Plastiktüten und verdächtige Pakete in die brillant orchestrierte Handlungskette. Dann knallt es.
Die Jugendlichen in Bertrand Bonellos „Nocturama“ sind militant, radikal (und chic). Sie sprengen Dinge mit hohem Symbolgehalt in die Luft: einen Bankentower, ein Staatsgebäude, ein paar Autos, eine Statue der Jeanne d’Arc. Menschen sterben, aber so genau wollen sie es gar nicht wissen. Als die Nachrichten der Explosionen über die Fernsehbildschirme flimmern, haben sie sich von der greifbaren Wirklichkeit bereits entfernt. In einem evakuierten Luxuskaufhaus, das sie als nächtliches Versteck ausgesucht haben, kommt der Actionfilm, der „Nocturama“ im ersten Teil ist, zum Erliegen. Die vormals auf Handlungsfortschritt getakteten Teenager bewegen sich nun wie todgeweihte Traumwandler durch die schöne Warenwelt – ein Fantasy-Reich mit unendlichen Möglichkeiten des Konsums und der Verwandlung: Essen, Trinken, Hits aus edlen Stereoanlagen hören, Go-Kart fahren, Baden, sich Ankleiden, Schminken und so weiter. Draußen rückt derweil eine Spezialeinheit der Polizei an.
Auch wenn der Inhalt Parallelen zu aktuellen Ereignissen aufwirft, ist „Nocturama“ keine filmische Antwort auf die islamistische Terrorserie, die Paris im Jahr 2015 heimsuchte. Die erste Drehbuchfassung reicht ins Jahr 2011 zurück, ein Teil des Films wurde noch vor den Novemberanschlägen gedreht. Der Terrorismus in „Nocturama“ ist reine Fiktion, eine cineastische Fantasie. Allein die soziale und ethnische Zusammensetzung der Gruppe hat etwas Utopisches. Mädchen und Jungen, Weiße und Schwarze, Bürgerliche und arabischstämmige Jugendliche aus der Banlieue – daraus lässt sich nur schwer irgendein -ismus formen. Und auch der Habitus passt nicht zum herrschenden Bild von Militanz: die Gesten der Jugendlichen sind zärtlich, die Gesichter verwundbar. Un-machohafte Radikale hat das Kino bisher kaum gesehen. Keine Parolen, keine Überlegenheitsgesten, kein Potenzgehabe, dafür aber eine Spur jugendlicher Arroganz.
Bertrand Bonello verbindet das Porträt einer Jugend zwischen Aufbegehren und Melancholie mit dem Genrekino. Referenzen des Kaufhaus-Parts sind u.a. John Carpenters „Assault – Anschlag bei Nacht“ (fd 21 142) und George A. Romeros „Zombie“ (fd 22 119). Der erste Teil des Films wiederum ist eine direkte Anlehnung an Alan Clarkes „Elephant“ (1989), ein minimalistisches Filmexperiment, das 40 Minuten lang eine Reihe von Killern auf ihren Wegen zu ihren Opfern zeigt. Während Clarke mit der zeitlichen und geographischen Markierung in Belfast Ende der 1980er-Jahre den Kontext mitlieferte, sucht Bonello nach Entleerung und Abstraktion. Die Motive der Figuren werden in irgendein Off verlagert, übrig bleibt der reine Drive: Bewegung und Aktion.
„Nocturama“ beteiligt sich nicht am Diskurs; der Film stellt sich eher daneben – und sagt dabei doch mehr über die Gegenwart als das meiste, was im Gewand von Realismus und Relevanz daherkommt. Im Kaufhaus begegnen die Jugendlichen beispielsweise ständig Doppelgängern ihrer selbst – ein Junge mit T-Shirt und Sneakers sieht sich einmal einer Schaufensterpuppe im identischen Outfit gegenüber. Der Film aber macht daraus keinen zynischen Kommentar auf die spätkapitalistische Jugend, die zuerst zerstört und sich anschließend an Chanel und Fendi erfreut. Die Inszenierung bindet die Dinge gerade nicht in ein ambivalentes Verhältnis ein; ein Verfahren, das in der zeitgenössischen Kultur tendenziell zum faulen Trick entartet ist, um sich mit dem Bewusstsein der Kompliziertheit der Welt zu schmücken. Bonello beharrt vielmehr auf einer Kette von Handlungen und Zeichen, die unverbunden nebeneinanderstehen. Am Ende sind es einfach traurige, ängstliche Kinder, die in einem Luxuskaufhaus abgeschossen werden.
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