Drama | Haiti/Frankreich/Norwegen 2014 | 135 Minuten

Regie: Raoul Peck

Nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti im Januar 2010 sieht sich ein Paar aus der Oberschicht gezwungen, seine ehedem prunkvolle Villa an einen NGO-Mitarbeiter zu vermieten, der bald darauf eine leidenschaftliche Affäre mit einer Einheimischen beginnt; sie selbst beziehen derweil eine alte Garage. Das intensive, atmosphärisch zwingende Kammerspiel stellt die soziale Hierarchie auf den Kopf, woraus allerdings kein neues Miteinander, sondern zunehmende Spannungen erwachsen, die sich in einem archaischen Gewaltakt entladen. Der exemplarische, an eine brechtsche Versuchsanordnung gemahnende Film inszeniert das Scheitern des unfreiwilligen Experiments mit großartigen Darstellern als vertane gesellschaftliche Chance. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
MEURTRE À PACOT
Produktionsland
Haiti/Frankreich/Norwegen
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Velvet Film/ARTE France/Figuier Prod./Ape&Bjørn Prod./Testimonio
Regie
Raoul Peck
Buch
Lyonel Trouillot · Raoul Peck · Pascal Bonitzer
Kamera
Eric Guichard
Musik
Alexei Aigui
Schnitt
Alexandra Strauss
Darsteller
Alex Descas (Der Mann) · Joy Olasunmibo Ogunmakin (Die Frau) · Thibault Vinçon (Alex) · Lovely Kermonde Fifi (Andrémise/Jennifer) · Albert Moléon (Joseph)
Länge
135 Minuten
Kinostart
17.09.2015
Fsk
ab 12 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Parabelhaftes Gesellschaftsdrama aus Haiti

Diskussion
Die Toten sieht man nicht. Raoul Pecks „Mord in Pacot“ spielt unmittelbar nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti im Januar 2010. Aber ähnlich wie schon in seinem Dokumentarfilm „Haiti: Tödliche Hilfe“ ((fd 42 024); 2012) über gutgemeinte, aber schädliche Hilfsprogramme beim Wiederaufbau des Landes vermeidet der ehemalige haitianische Kulturminister die aus den Fernsehnachrichten vertrauten Schockbilder. Stattdessen kreiert er auf einem Anwesen im oberhalb von Port-au-Prince gelegenen Nobelviertel Pacot eine Art Miniaturmodell der haitianischen Gesellschaft. Ein Modell, das in Pecks Augen zudem allgemeingültigen Charakter haben soll. Das Problem mit solchen universellen Referenzen ist jedoch, dass sie häufig allzu beliebig ausfallen. Auch „Mord in Pacot“ kann sich aus diesem Dilemma nicht gänzlich befreien; trotz großartiger Schauspieler, einer atmosphärisch packenden Inszenierung und des raffinierten Drehbuchs von Lyonel Trouillot, dem Pecks langjähriger Weggefährte Pascal Bonitzer den letzten Schliff verpasste. Das Typische in der Charakterzeichnung, das Parabelhafte der an Pasolinis „Teorema“ ((fd 15 863); 1968) angelehnten Handlung, das Sinnbildhafte der zwischenmenschlichen Verhältnisse, all das legt sich wie eine Brecht’sche Käseglocke über den Schauplatz des Kammerspiels. Möglicherweise aber ist die theatralische Distanz, die sich daraus ergibt, durchaus gewollt. Und die vermeintliche Schwäche des Dramas, dass keine der Hauptpersonen zur Identifikationsfigur taugt und der Plot keinerlei Perspektive liefert, keinen Ausweg aufzeigt, entpuppt sich am Ende als heimliche Stärke. Die Toten sieht man nicht in „Mord in Pacot“, aber sie bleiben dennoch allgegenwärtig. Ein reiches Paar steht nach dem Beben buchstäblich vor den Trümmern seiner Existenz: ein Mann, eine Frau, beide namenlos und doch viel mehr als nur typische Vertreter ihrer Klasse, weil Alex Descas und Ayo ihnen mit ihrer charismatischen Leinwandpräsenz eine einzigartige Persönlichkeit verpassen. Ihr offenbar nicht ganz legaler Adoptivsohn, den sie aus der Armut „gerettet“ haben, liegt irgendwo unter diesen Trümmern begraben. Der Verwesungsgeruch breitet sich von Tag zu Tag mehr aus. Dennoch ist der Mann nicht bereit, darüber zu sprechen. In der einst luxuriösen Villa ist nur noch ein von außen begehbares Zimmer im Obergeschoss bewohnbar. Den Rest hat ein Ingenieur mit einem roten Kreuz markiert. Wenn die Villa nicht bald instandgesetzt wird, muss alles abgerissen werden. In ihrer Not vermieten der Mann und die Frau das letzte Zimmer an Alex, den Vertreter einer internationalen Hilfsorganisation, der gemeinsam mit der jungen Haitianerin Andrémise dort einzieht. Sie selbst richten sich in der ehemaligen Garage ein. Andrémise, die aus einfachen Verhältnissen stammt, sich in Jennifer umbenennen und mit Alex nach Europa fliehen will, schlüpft in die Rolle von Pasolinis Gast. Bei Peck fungiert sie zugleich als personifiziertes Nachbeben. Das soziale Gefüge, das bereits durch die Naturkatastrophe ins Wanken geraten ist, wird durch ihre schamlos ausgelebte Sexualität zusätzlich erschüttert. Ihre Lustschreie hallen über das Anwesen, wenn sie nachts mit Alex schläft oder tagsüber mit ihrem heimlichen Geliebten. Und auch das namenlose Paar fühlt sich bald zu ihr hingezogen. Arm und Reich, die bislang durch hohe Zäune und allerhand unsichtbare Schranken voneinander getrennt waren, leben plötzlich Tür an Tür, Bett an Bett. Vorübergehend wird die soziale Hierarchie zumindest architektonisch auf den Kopf gestellt. Ein Miteinander aber entsteht daraus nicht. Stattdessen dominieren Argwohn, Missverständnisse und Vorbehalte. Die sozialen Schichten nähern sich einander zwar an, stehen sich letztlich aber doch unversöhnlich gegenüber. Dazwischen wabert Alex, der unbeholfene Helfer, ganz beschwingt und berauscht von seinem Engagement, der weder die einen noch die anderen versteht. „Der Weiße“ ist augenscheinlich ein Fremdkörper, ein Außenseiter, der gebraucht wird, den aber keiner haben möchte, der kurzfristig hilft, aber auf Dauer alles nur schlimmer macht. Im Mikrokosmos des vom Erdbeben zerstörten und von der karibischen Sonne aufgeheizten Anwesens entlädt sich das heikle soziale Gemisch schließlich in einem archaischen Gewaltakt, den Peck bei strömendem Regen wie ein reinigendes Gewitter inszeniert. Danach finden allmählich alle wieder zu sich. Ordnung und Stabilität kehren zurück. Es ist, als wäre der Alptraum, der Horror zu Ende. Es geht weiter – so scheint es. Allerdings: wie vorher. Im Nachhall dieser Erkenntnis offenbart sich endgültig, dass die Katastrophe, von der „Mord in Pacot“ erzählt, kein Naturphänomen ist, sondern ein gesellschaftliches Versagen – eine vertane Chance.
Kommentar verfassen

Kommentieren