Eine Kolonne von Schneepflügen brettert nachts über eine Skipiste, Schneekanonen setzen sich automatisiert in Gang, das Geräusch von Lawinensprengungen in der Ferne kündet von drohender Gefahr: Wintersporttourismus hat wohl kaum jemals abstrakter und monumentaler ausgesehen als in Ruben Östlunds „Höhere Gewalt“. Durch wiederkehrende menschenleere Totalen, in denen die Technologie einer Freizeitindustrie als nahezu geisterhafte Mechanik ins Bild gesetzt wird, erzeugt der schwedische Filmemacher eine merkwürdig fremdartige, fast Science-Fiction-hafte Atmosphäre. Die Menschen darin – im Zentrum steht eine junge, bürgerlich gesättigte Familie, Vater, Mutter, zwei Kinder – muten nicht wirklich vertrauter und lebendiger an. In der aseptischen Kulisse eines riesigen Luxushotels und auf den perfekt präparierten Skipisten der französischen Alpen treten die vier Figuren zunächst gänzlich entindividualisiert in Erscheinung. Einmal zeigt sie der Film im Badezimmer, jedes Familienmitglied mit einer elektrischen Zahnbürste ausgestattet, in einer anderen Szene beim Mittagsschlaf in uniformer blauer Skiunterwäsche zusammen auf dem Hotelbett: die Kleinfamilie als ein homogener Familienkörper.
„Höhere Gewalt“ erzählt von den Rissen und Brüchen dieses Familienkörpers, als eine kontrollierte Lawinensprengung sich für einen Augenblick zur Katastrophe auszuwachsen droht. Beim Mittagessen auf der Restaurant-Terrasse mit prächtigem Panoramablick ist der Vater Tomas bei den ersten Anzeichen einer Gefahr plötzlich verschwunden (nicht ohne zuvor nach seinem Mobiltelefon zu greifen), während die Mutter instinktiv ihre beiden Kinder beschützt. Nach dem Aufatmen über das ausbleibende Unglück wird zunächst der Übergang zur Tagesordnung versucht. Doch die vormals so flüssigen Bewegungen der familiären Einheit sind ins Stocken geraten: Die Kinder reagieren mit Abgrenzung, und nach anfänglichen Normalisierungsversuchen treten auch zwischen dem Ehepaar die Kommunikationsstörungen offen zu Tage. Tomas’ „Verrat“ an der Familie stellt nicht zuletzt seine Rolle als Ehemann und Vater ernsthaft in Frage. Seine Männlichkeit zerfällt immer mehr und kulminiert in einem hysterischen Weinkrampf vor Frau und Kindern. Schließlich sind es die Kinder, die die Initiative ergreifen und den Familienkörper wieder errichten – und zwar buchstäblich: Als der Vater als heulendes Häufchen auf dem Teppich kauert, legen sich die Kinder beschützend auf ihn und nötigen die abseits stehende Mutter dazu, am kollektiven Tröstungsakt mitzuwirken.
„Höhere Gewalt“ ist eine von satirischen Tönen durchdrungene Bestandsaufnahme der modernen Kleinfamilie. Aus großer Distanz seziert Östlund die uniformen Rituale und Gesten der Familie, die Rollenbilder des Paares, Tomasʼ Gebaren als Familienoberhaupt („Du bist ein super Skifahrer“, motiviert er den Sohn), seine zunehmende Demontage. Vivaldis „Winter“ zieht sich dabei wie ein spöttisches Gelächter durch den Film. Östlund setzt den in seinem kontroversen Vorgängerfilm „Play“
(fd 41 497) ausgiebig demonstrierten visuellen Stil fort, der ebenso konsequent wie effektiv einer Überwachungslogik folgt – in „Höhere Gewalt“ findet diese Ästhetik in der panoptischen Hotelarchitektur ihren idealen Schauplatz.
Es fällt schwer, sich der Wucht von Östlunds präzisen, glasklaren Einstellungen und dem atmosphärischen Sog zu entziehen, der sich durch die Synthese aus Horror und Komik generiert. Dennoch hinterlässt der Film ambivalente Gefühle. Die Beobachterperspektive hat durchaus auch etwas Perfides; Östlund operiert von einem allwissenden Standpunkt aus, schiebt die Figuren hin und her wie auf einem Spielfeld. Ob es ihm dabei wirklich um eine profunde Gegenwartsdiagnose zeitgenössischer Rollenbilder geht, bleibt zweifelhaft – zu sehr scheint er es zu genießen, seine Figuren einer deterministischen Mechanik auszusetzen. Als Zuschauer kann man an diesem Genuss durchaus teilhaben, die Figuren indes erscheinen so ferngesteuert wie das ufo-artige Flugobjekt, das einmal vor den Hotelfenstern seine Kreise zieht, um anschließend im Wohnzimmer unsanft zu Boden zu gehen.