Die »menschlichen Abgründe« sind ein viel beschworenes Thriller-Motiv. Wo genau aber klaffen sie eigentlich? Oft verorten Kriminalfilme sie hinter großbürgerlicher Fassade, in Spiegelbildern, die staubfreie Glastische und auf Hochglanz polierte Edelstahlflächen zurückwerfen – dabei sind die Mörder bei »Derrick« und bei Claude Chabrol einander gar nicht so unähnlich. Auch David Fincher erinnert in »Gone Girl« an solche »Entlarvungsfantasien«, aber es steckt bei ihm viel mehr in der Geschichte.
Der erfolglose Schriftsteller Nick Dunne kehrt darin an seinem fünften Hochzeitstag aus der Bar zurück und stellt fest, dass seine Frau Amy offensichtlich entführt wurde. Das Drehbuch von Gillian Flynn (von der auch die Romanvorlage stammt) konstruiert die Handlung als ein komplexes Geflecht aus Rückblenden und erzählter Gegenwart. Früher existierte scheinbar das große Glück: Das Kennenlernen der beiden auf einer Party in New York gestaltet sich ebenso schlagfertig wie ironisch, die Verliebten erdenken Paar-Dialoge, die so originell und geschliffen sind, dass sie einem die Ohren zu zerschneiden drohen – und der Sex ist, wie Amy sagt, »zu gut, um wahr zu sein«. Das alles gilt freilich nur für die ersten Jahre ihrer Beziehung. Meisterhaft verschiebt Fincher mit subtilen filmischen Mitteln das betont gemütliche Heim der Dunnes ins Ungemütliche, ja Dubiose. Am Anfang setzen er und Kameramann Jeff Cronenweth nur sehr spärlich künstliches Licht ein; über den Räumen des großen Hauses scheint ein Schleier zu liegen, an den Fenstern leuchtet es grell, im Innern zerfasern Menschen und Objekte ins leicht Diffuse. Die Farbe wurde aus den Bildern gesaugt, ähnlich wie in Finchers »Verblendung« (2011) taucht rot so selten auf, dass es ein Signalmarker des Bösen sein muss – etwa ein winziger Fleck in der Küche. Mittlerweile lebt das Paar in Nicks Heimatkaff in Missouri, weil seine Mutter schwer erkrankte und bald darauf starb. Die Rezession hat zugeschlagen, der Aktienfonds, den Amys wohlhabende Eltern für sie aufgelegt hatten, steckt nahezu vollständig im Haus und der Bar, die Nick gemeinsam mit seiner Schwester Margo betreibt. Weder Nicks Roman noch Amys Buchreihe, in der sie sich als Alter ego »Amazing Amy« für ein Kinderpublikum selbst optimierte, konnten die beiden langfristig zufrieden stellen. Amy vertraut ihrem Tagebuch an, dass Missouri für sie die Hölle sei.
In der nur leicht zugespitzten Schilderung des Zerfalls einer Partnerschaft, in die der Alltag einbricht, liegt die große Stärke des Stoffs. Ökonomische Schwierigkeiten und enttäuschte Erwartungen, vor allem die Erkenntnis, gar nicht anders zu sein als all die unkreativen, stromlinienförmigen Langeweiler, von denen man sich immer absetzen wollte, haben Nicks und Amys Ehe zerfressen.
Die Indizien im Entführungsfall sprechen bald zunehmend deutlicher gegen Nick. Wenn sich schrille Fernsehmoderatorinnen öffentlich auf seine Schuld festlegen, mag man darin eine Kritik der Skandalisierungsmechanismen in der heutigen Medienöffentlichkeit erkennen. Diese aber bleibt eher schal. Weit größer ist der Reiz des Uneindeutigen in den erzählerischen Konstellationen: Das Drehbuch bleibt lange emotional auf Distanz zu den beiden Hauptfiguren, die in ihrem übertriebenen, mitunter hysterischen Glück ebenso wie in ihrer wachsenden Gleichgültigkeit füreinander auch dem Zuschauer fremd bleiben sollen. Später kippt diese Balance, und Fincher lässt den ästhetischen Einsatz in dem Maße eskalieren, wie sich die Handlung einer Thriller-Kolportage nähert. Dann flutet tiefrotes Blut die Leinwand, die Oberflächen werden glatter, die Lichtsetzung wirkt enthüllend. Das hintergründige, süße Synthesizertröpfeln der Musik, die wie Angelo Badalamentis Score zu »Twin Peaks« das Unheil als metatextuelle Anspielung erahnen lassen soll, walzt sich in Schmalzteppichen oder materialisiert das Unheil in industriell-elektronischen Bass-Wummern. Fincher hat dies wie ironische Kleckse in den Film getupft, ein weiterer ist die Besetzung von Sitcom-Star Neil Patrick Harris (»How I Met Your Mother«) als Amys schwerreichem, neurotischem Ex-Freund. Tanner Bolt, ein Anwalt, an den Nick sich in seiner Not wendet, lacht nur über die haarsträubende Geschichte, die dieser ihm auftischt. Womöglich funktioniert Finchers Film tatsächlich auch als Meta-Thriller; weit beeindruckender und intensiver aber ist er als die psychologisch spannungsreiche Chronik einer überfrachteten Liebe, die von Narzissmus und vom Absterben der Gefühle erzählt.