Die Knöchel ihrer ums Lenkrad gekrallten Finger sind weiß, das Gesicht glänzt vor Angstschweiß, der Griff zum Schaltknüppel ist so fahrig wie zögerlich. Das Leben der alleinerziehenden Mutter Adele scheint eine Kaskade der Überwindungen zu sein. Für ihren 13-jährigen Sohn Henry ist es ein Trauerspiel der Isolation, in Räumen so schattig, als wollten sie das Innenleben seiner Bewohner nachahmen.
Größer könnte der Kontrast zu den spätsommerlichen Wäldern Massachusetts nicht sein, durch die sich zu Beginn die Straßen und die Sonnenstrahlen winden – an diesem verlängerten „Labor Day“-Wochenende, vor dem Adele ein paar Lebensmittel einzukaufen versucht – und einen Gefängnisflüchtling mit nach Hause nimmt. Frank Chambers heißt der Mann, der im Laden plötzlich vor Henry steht und vermeintlich väterlich die Hand um seinen Nacken legt. An seiner Seite breitet sich ein Blutfleck aus. Die Bitte, ihn mitzunehmen, hört sich ziemlich zwingend an.
Nach 18 Jahren Gefängnis nistet sich Frank, von den Anwohnern unentdeckt, bei Adele ein und fängt das Werkeln an, am Haus und am Herz der Besitzerin, der das Gefühl des Eingesperrtseins nicht fremd ist. Früher sei Adele in die Liebe selbst verliebt gewesen, fröhlich, voller Leben, so verteidigt sich Henrys Vater, der mittlerweile eine neue Familie gegründet hat. Doch mit ihm schien sie den Glauben an die Liebe und damit irgendwie auch an das Leben verloren zu haben.
Das „Familien“-Drama von Jason Reitman stellt viele Prämissen darüber auf, wie das Leben so spielen kann. Wobei sich diese Erzählung über ein inneres Gefängnis, das von dem Mann aus dem tatsächlichen Gefängnis aufgebrochen wird, abseits des Stockholm-Syndroms auf wackeligen Füßen positioniert. Wieviel Gefühl sich damit vermitteln lässt, hängt letztlich vom Glauben ab, den man dieser Geschichte zu schenken bereit ist. Reitman zumindest hat sich mit diesem mit großer Feinfühligkeit erzählten Liebesmärchen als Meister im Arrangieren derangierter Figuren etabliert. Seine Charaktere im Umbruch, die minderjährige schwangere „Juno“, die „mal eben“ ein Kind austrägt, um es danach zur Adoption freizugeben, der Tabaklobbyist mit dem unverschämten „Thank You For Smoking“ auf den Lippen, der unverbindliche Vielflieger auf Bindungskurs in „Up in the Air“ oder die Mittdreißigerin, die über ihre „Young Adult“-Attitüde zu stolpern beginnt, hatten stets etwas Konstruiertes an sich, überraschten aber auch mit Bildern und Blickwinkeln, wie sie schöner nicht komponiert hätten werden können.
Auch diesmal sind es Henrys Erinnerungen an diese „unerhörte Begebenheit“ im Sommer 1987, denen Reitmans Filmnovelle folgt. Die Projektionen der Erwachsenen, die der Junge damals noch nicht begreifen konnte, enthüllen sich erst in vereinzelten Rückblicken: von einer Frau, die sich nach etwas sehnt, was sie verloren hat, und von einem Kriminellen, der mit Adele so zärtlich einen gedeckten Pfirsichkuchen backt und Henry dann wieder so bedrohlich an sich zieht, als es plötzlich an der Tür läutet. Frank ist ein Mann zwischen Sanftheit und Freiheitsdrang in einem zwischen Romanze und Thriller geschickt in der Schwebe gehaltenen Film – ein Kammerspiel des stillen Einvernehmens, ausgefochten von einer großartig verstörten Kate Winslet als Adele und Josh Brolin, aus dessen karg eingesetzter Mimik Franks Schmerz ohne Worte spricht.
Mit diesen beiden ungewöhnlich Liebenden, die der Verlust eint, schlägt Reitman nach all den Dramödien einen wesentlich tragischeren, aber auch sinnlicheren Ton an. Seine bisherigen, schnodderig-ironischen Figuren hätten eine unschuldig-naive Romanze, wie die der Romanvorlage von Joyce Maynard, vielleicht mit Häme überzogen. Reitman hingegen ist es bitterernst mit den Motiven der Figuren, die dennoch nie völlig ins Kippen geraten: Manchmal ist ein Pfirsichkuchen eben nicht nur ein Pfirsichkuchen. Und manchmal ist seine symbolträchtige Herstellung nicht nur im übertragenen Sinne klebrig süß, sondern, vom richtigen Regisseur in die richtigen Bilder übersetzt, die Verheißung selbst.